Kritiken, Repliken und weitere Anschlüsse zu Generative Realitäten I


Kritiken, Repliken und weitere Anschlüsse zu Generative Realitäten I

Bücher sind nur dickere Briefe an Freunde; Briefe sind nur dünnere Bücher für die Welt.
Jean Paul

Liebe Leserinnen und Leser, liebe Interessierte,

zwischenzeitlich gingen viele Anfragen mit der Bitte bei mir ein, ein paar Worte zum Hintergrund von Generative Realitäten I zu sagen (einige Auszüge finden sich unter diesem link), die Grundidee des Ansatzes breiter auszulegen und Anschlüsse an andere Konzepte und Werke aufzuzeigen. Diese Anfragen sind gut nachvollziehbar, denn die auf knapp 800 Seiten entfaltete Untersuchung der Koevolution von Mensch, Geist, Kultur und Technologie spannt einen Bogen von der ersten Werkzeugherstellung über die Entstehung der Medien bis zum Digitalzeitalter, also über einen Zeitraum von drei Millionen Jahren. Die Untersuchung zeigte, dass die Evolution der Technosphäre / Noosphäre nicht kontingent, sondern regelhaft verläuft: Die Menschheitsgeschichte besteht aus dem Durchlaufen einer logischen Abfolge von Technikkomplexitäten und Abstraktionsgraden. Um diese Abstraktionsgenealogie – d.h. die Menschheitsgeschichte und Technosphärenevolution als Abstraktionsgegeschichte – rekonstruieren zu können, mussten alle im Laufe der Entwicklung entstandenen soziokulturellen, kognitiven und technologischen Bereiche berücksichtigt und transdisziplinär in Beziehung gesetzt werden. Die Untersuchung fiel darum vergleichsweise komplex und vielschichtig aus (meinerseits übrigens gänzlich unintendiert, es ergab sich schlicht aus der Zusammenführung des Materials). Der Bitte um weitere Erläuterungen und Vertiefungen komme ich darum sehr gerne nach. Ein passender Weg hierzu schien mir zu sein, auf einige Punkte in den bislang vorliegenden Rezensionen und Kritiken des Buches einzugehen, denn so lassen sich en passant auch wesentliche Konzepte und Befunde aus Generative Realitäten I nochmals verdichtet erläutern. Die folgenden Kommentare zu den Rezensionen sollen Interessierten weiteres Material an die Hand geben, an erster Stelle jedoch zu weiteren Dialogen einladen. So auch die später hinzugefügten und laufend erweiterten „Randnotizen“, in denen Auseinandersetzungen mit anderen Werken stattfinden, die zu ähnlichen Befunden gekommen sind und sich aufschlussreich mit der kulturevolutionären Zivilisationstheorie in Verhältnis setzen lassen (ursprünglich waren dies tatsächlich Zusatznotizen zur Antwort auf die erste Rezension, daher „Randnotizen“, dann jedoch ergaben sich Randnotizen zu vorherigen Randnotizen usw., so dass diese Sektion stetig angewachsen ist).
Weitere Anfragen und Feedback jeder Art sind selbstverständlich stets willkommen.


1. Stufen der Abstraktion in Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte.
Kommentar zur Rezension von Hanno Pahl, „Ein ganz großer Wurf“, Soziopolis, 14.1.2020
Randnotiz 1 zu Arno Bammé, Die vierte Singularität (2020)
Randnotiz 2 zu Klaus Theweleit, Warum Cortez wirklich siegte (2020)
Randnotiz 3 zu Hanno Pahl, Geld, Kognition, Vergesellschaftung (2021)
Randnotiz 4 zu Jürgen Renn, Die Evolution des Wissens (2020/2022)
Randnotiz 5 zu Matthias Schemmel, Historical Epistemology of Space (2016)
Randnotiz 6 zu Matteo Pasquinelli, The Eye of the Master (2023)
Randnotiz 7 zu Gabriele Gramelsberger, Philosophie des Digitalen (2023)
Literatur


2. Nach der Kontingenz: Zur Matrix des Werdens.
Kommentare und Ergänzungen zur Rezension von Manfred Faßler, Soziologische Revue, 4.12.2020
Literatur

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1. Stufen der Abstraktion in Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte.
Kommentar zur
Rezension von Hanno Pahl, „Ein ganz großer Wurf“, Soziopolis, 14.1.2020

Link

Zu dieser Rezension eine kleine Anmerkung. An einer Stelle schreibt Hanno Pahl: „[An Bammés] Programm knüpft Löffler mit der Absicht an, es noch zu überbieten.“ Tatsächlich ging es in keiner Weise darum, Bammés Studie (Bammé 2011) zu „überbieten“, sondern darum, sie produktiv fortzuführen. Meiner Einschätzung nach könnte Arno Bammés Buch Homo Occidentalis (wie hoffentlich an einigen Stellen in Generative Realitäten I hinreichend deutlich wurde) bereits heute als Klassiker der Soziologie des 21. Jahrhunderts gelten. Doch erst die Einbettung der historisch-soziologischen Befunde Bammés in den höheren Rahmen der sozialen und kulturellen Evolution ermöglicht es, die in Homo Occidentalis aufgeworfenen und mit Bammés soziogenetischem Ansatz nicht lösbaren Fragen zu beantworten.
Im Besonderen ist es die Anwendung und Übertragung des kulturevolutionären Modells der auf dem Sperrklinken- bzw. Wagenheber-Effekt (Ratchet-Effekt; Kumulation) beruhenden „Erweiterung kultureller Kapazitäten“ (Haidle et al. 2015), die es ermöglicht, die Entwicklungen den frühen Hochkulturen wie Mesopotamien und Ägypten an über die von Bammé isolierten „axialen Zäsuren“ – Achsenzeit in Griechenland (800-200 v.u.Z.), Neuzeit (1400-1900), Technologische Zivilisation (ab 1870) – in den allgemeinen Rahmen der Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte einzubetten. Hierdurch können
1) ihre Positionen im Zivilisationsprozess präzise angegeben werden,
2) die Entwicklungspfade der Gegenwart hin zur nun anbrechenden „Technologischen Zivilisation“ (Bammé 2011) extrapoliert werden,
3) einige der kulturellen, institutionellen und geistigen Eigenschaften der „Technologischen Zivilisation“ abgeleitet werden.
Durch die Einbettung der „axialen Zäsuren“ in die kulturevolutionär aufgeschlüsselte Zivilisationsgeschichte wird es also möglich, die in Bammés Homo Occidentalis offen gebliebenen Fragen zu beantworten. So lässt sich etwa (nicht-spekulativ) ableiten, welche neue Kognitionsstruktur und Metaphysik, welches Weltverhältnis und Bewusstseinsform, welche Ökonomieform und politische Organisation auf Basis der heute sich entwickelnden Technologien entstehen kann, d.h. welche Zivilisationsform auf die Moderne folgen muss, aus ihr herauswachsend, derzeit noch im „Keimzustand“ der Potentialität. Bammés Homo Occidentalis bietet hierfür die notwendige Vorarbeit. So versteht sich Generative Realitäten I in keiner Weise als Versuch einer Überbietung, sondern steht vielmehr „auf den Schultern“ von Arno Bammés Werk, setzt es fort, erweitert es und komplettiert es gesamtgeschichtlich, eben auch in Richtungen, derer sich Bammé 2011 noch nicht bewusst war. Generative Realitäten I ist somit als der logisch folgende Schritt zu verstehen, der kumulativ, d.h. dem zivilisatorischen Wagenheber-Effekt gemäß auf Bammés Homo Occidentalis aufbaut.

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Randnotiz 1. Arno Bammé, Die vierte Singularität (2020)
Eine kurze Erläuterung zum Hintergrund der folgenden Bemerkung. Im Jahr 2016 habe ich Arno Bammé die Dissertationsschrift, auf der das Buch Generative Realitäten I beruht, vorgestellt und ihn auf das zentrale Ergebnis der Studie hingewiesen, das darin besteht, dass die „axialen Zäsuren“ in den Verlauf der gesamten Kulturevolution einzubetten sind und dass sie dem Prinzip des Ratchet-Effekts nach aufeinander aufbauen (so etwa im von Arno Bammé damals gelobten Kapitel der Zusammenfassung seines Ansatzes in Homo Occidentalis, worin in der kritischen Fortführung explizit auf den Ratchet-, Sperrklinken- bzw. Wagenheber-Effekt eingegangen wird, der aufgrund seiner wesentlichen Bedeutung auch in Hanno Pahls Rezension hervorgehoben und als zentrales Konzept für den Ansatz von Generative Realitäten I ausgemacht wurde; vgl. Löffler 2019, Kap. 7.6). Arno Bammé hat in der Zwischenzeit das Prinzip des Wagenheber-Effekts selbst aufgegriffen und in seinem im Jahr 2020 erschienen Buch Die vierte Singularität. Perspektiven einer soziologischen Zeitendiagnostik verarbeitet – dies leider ganz ohne diesbezüglich Generative Realitäten I oder Dissertation von 2016 zu referenzieren, worin der Ratchet-Effekt bereits vollumfänglich auf die Zivilisationsgeschichte von den Hochkulturen wie Mesopotamien und Ägypten an und die folgenden axialen Zäsuren angewendet wurde. Zur Illustration der Deckungsgleichheit von Bammés „Nachentdeckung“ und dem Kernbefund von Generative Realitäten I und der Dissertation erstellte ich einige Grafiken, die verdeutlichen, dass Bammé im Jahr 2020 nun nochmals auf das selbe Prinzip hinweist, das den Ausgangspunkt meiner Forschungsarbeit im Jahr 2009 bildete und worauf ich ihn 2016 hinwies, nämlich die Einsicht, dass zivilisationsgeschichtliche Kumulationsstufen bzw. axiale Zäsuren sperrklinkenartig aufeinander aufbauen. Die Illustrationen verdeutlichen, dass bei diesem Initialbefund nicht verharrt werden darf und dies einem Rückschritt von 10 Jahren für die Forschung gleichkommen würde, da in der Zwischenzeit in Generative Realitäten I bereits geklärt wurde, dass, warum und wie diese Geschichtsphasen aufeinander aufbauen.


In Die vierte Singularität unternimmt Bammé also den nächsten, in Generative Realitäten I bereits (auf 800 Seiten auch sehr detailliert) vollzogenen logischen Forschungsschritt nach Homo Occidentalis (Bammé 2011) und entdeckt schließlich die Kumulationsfolge der axialen Zäsuren neu. Diese konzeptualisiert er jedoch nun als „Singularitäten“ im Prozess der Kulturevolution. Aus Sicht der neueren Kulturevolutionsforschung bzw. unter dem in Generative Realitäten I zur Anwendung gebrachten Modell der „Erweiterungsgrade kultureller Kapazitäten“ (Haidle et al. 2015) und der „Erweiterungsgrade zivilisatorischer Kapazitäten“ (Löffler 2019) entsprechen die „axialen Zäsuren“ jedoch nur relativen Singularitäten, nicht absoluten Singularitäten. Relative Singularitäten bedeutet, dass diese Schwellen zwar in der konkreten Geschichte des Menschen einmalig durchlaufen wurden (bis auf die erste „Singularität“, die Bammé in der neolithischen Revolution identifiziert, die als Ausdruck der konvergenten Evolution bekanntlich an mehreren Orten und zu unterschiedlichen Zeiten stattfand, so also auf die in Generative Realitäten I betonten Konvergenzen und Universalen der Kulturevolution hinweist). Doch die Analyse der Gesamtgeschichte des Menschen vor dem Hintergrund der universalen Entwicklungsprinzipien der „Koevolution, Kumulation, Konvergenz und Rekursion“ (Löffler 2019, Kapitel 1.2) zeigt, dass diese Schwellen keine „absoluten“ Singularitäten darstellen: Sie hätten aus kulturevolutionär-anthropologischer Sicht prinzipiell auch von anderen Kulturen durchlaufen und realisiert werden können. Es ist also nur ein historischer Zufall („Singularität“), dass sie konkret im „europäischen Sonderweg“ durchlaufen und realisiert wurden, es ist allerdings kein Zufall, dass sie durchlaufen und realisiert wurden! Sie hätten aufgrund ihrer Universalität als Stufen im Kumulationsprozess auch in kulturellen Entwicklungspfaden anderer Kulturen realisiert werden können.
So setzt Bammés Geschichtsrekonstruktion bei der „neolithischen Revolution“ an, überspringt dann jedoch die frühen Hochkulturen (Mesopotamien, Ägypten, China, Indien, Südamerika, deren Strukturähnlichkeiten wieder auf das Prinzip evolutionärer Konvergenz verweisen). Wie in Generative Realitäten I gezeigt, müssen jedoch die zivilisatorischen Innovationen und Leistungen der frühen Hochkulturen ebenfalls als notwendige Stufen im kumulativen Verlauf der Zivilisationsentwicklung (Wagenheber-Effekt) betrachtet werden, d.h. als universale Schwellen, deren Errungenschaften jeweils die notwendigen Voraussetzungen (Entwicklungsbedingungen) für spätere Errungenschaften darstellen (vgl. Löffler 2019, Kap. 2.6). Nur wenn diese Phase bzw. Zäsur noch hinzugezogen wird, ergibt sich ein vollständiges Bild einer vom Sperrklinken- bzw. Wagenheber-Effekt bestimmten Zivilisationsgeschichte (vgl. Illustration oben und in Löffler 2019, S. 599, Abb. 16; link).
Das Erscheinen von Bammés Buch Die vierte Singularität bestätigt jedenfalls, dass die Verortung von Bammés Theorie als Ausdruck einer ab ca. 2020 einsetzenden neuen Phase der Sozialevolutionsforschung – und damit eines neuen Geschichts-, Menschen- und Weltbegriffs – in Generative Realitäten I korrekt gewesen ist. Bammés Werk ist als Ausdruck der „neosynthetischen Phase“ zu lesen, die auf die Phase des postmodernen System- und Kulturrelativismus folgt (siehe Löffler 2019, S. 141, Tabelle 1; link).

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Randnotiz 2. Klaus Theweleit, Warum Cortez wirklich siegte (2020)
Apropos Zivilisationstheorie, Post-Relativismus, Konvergenz und „neosynthetische Phase“: Klaus Theweleit konzipiert in seinem 2020 erschienen Buch Warum Cortés wirklich siegte. Technologiegeschichte der eurasisch-amerikanischen Kolonialismen. Pocahontas 3, worin er die technikgeschichtlichen Gründe westlicher Dominanz aufschlüsselt, die menschliche Fähigkeit zur „Segmentierung und Sequenzierung“ als Relais zivilisatorisch-technologischer Entwicklung (vgl. Theweleit 2020a; Theweleit 2020b). Die Prinzipien „Segmentierung und Sequenzierung“ bilden dabei exakt Synonyme des in Generative Realitäten I herausgearbeiteten Prinzips der „Freistellung von Regularitäten“, der „Kommensurabilisierung von Agenten und Ereignissen“ und der „kumulativen Weltdifferenzierung“ sowie des „weltgenetischen Rekursionsgesetzes“ (vgl. Löffler 2019, Kap. 4.3; Kap. 5.3; Anhang 3). Durch die Anwendung dieses Schlüsselprinzips menschlicher Weltbeherrschung (das im Übrigen bereits die Hominisation und kulturell-kognitive Evolution vor drei Millionen Jahren bestimmte und nicht erst, wie Theweleit annimmt, mit der Domestikation von Tieren vor etwa 10.000 Jahren ansetzte; vgl. Haidle et al. 2015), ergibt sich für Theweleit exakt dieselbe kumulative Folge zivilisatorischer Zäsuren bzw. von Stufen der Weltdifferenzierung, die auch in Generative Realitäten I gezeigt wurde. So Theweleit im Interview mit dem Deutschlandfunk:

„Und immer mit diesen beiden Prinzipien, die sich mir dann auftaten: Man segmentiert Teile der Wirklichkeit, behandelt sie in einer bestimmten Weise. Sieht, was geht. Sieht, was nicht geht. Dann bildet man Folgen davon, Sequenzen.
Die drum herum lernen das auch. Und das setzt sich fort über dann Metallschmelze, Tausende Jahre später, wo Erze und Metall und die Schlacke getrennt werden. Es setzt sich fort im Schiffsbau, zusammengesetzt aus ganz vielen verschiedenen Teilen: Seilen, Segeln, Masten, Hölzer von hier, Metalle von dort, bis hin zum Alphabet, das meiner Meinung nach daraus entsteht.
Diese Technik, die Welt in 26 Buchstaben, 24 Buchstaben zuerst, zu zerlegen und daraus ein Aufzeichnungsgerät zu machen, das phonetische Alphabet – das ist der Unterschied zu den Schriften vorher, die es gibt, das griechische phonetische Alphabet.
Und das geht weiter in Mathematisierung, Geometrisierung des Raums, Globus, Weltkarte anlegen, immer in Planquadraten, Längengrade, Breitengrade bis zur Atomstruktur, bakterielle Struktur, Mikroskop, heute in den Computern dasselbe Prinzip, Segment, Segment, Segmentierung, Segmentierung, endlose Sequenzketten, die wir heute in der sogenannten Digitalisierung haben.“ (Theweleit 2020b).

Hierin benennt Theweleit exakt dieselben Phänomene und Innovationen, die Arno Bammés „axiale Zäsuren“ bzw. die „Grade zivilisatorischer Kapazitäten“ in Generative Realitäten I charakterisieren, etwa Piktogrammschrift, Alphabet, zentralperspektivische Geometrisierung, Informationstechnologie (vgl. Löffler 2019, S. 599, Abb. 16; link).
Genauer aufgeschlüsselt und illustriert findet sich der Prozess der „Segmentierung und Sequenzierung“ (Theweleit 2020) bzw. der Prozess der „kumulativen Weltdifferenzierung“ in den Abbildungen zu den „Realisierungskegeln“ der jeweiligen „zivilisatorischen Kapazitäten“ (vgl. Löffler 2019, S. 602-604, Abb. 17.1-17.3; link).
Auch Theweleits Ansatz ist also wie der Bammés als Ausdruck der „neosynthetischen Phase“ der Sozialevolutionstheorie zu verstehen (vgl. Löffler 2019, S. 141, Tabelle 1; link).
In der Konvergenz dieser wohl unabhängig voneinander entstandenen Zivilisationstheorien drückt sich derselbe neue Grad der Weltdifferenzierung aus.

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Randnotiz 3. Hanno Pahl, Geld, Kognition, Vergesellschaftung (2021)
Hanno Pahl hat den kulturevolutionären Ansatz zwischenzeitlich weiter verfolgt und in Form einer wirtschaftssoziologischen und währungsgeschichtlichen Untersuchung zur Entstehung des Geldes in Mesopotamien und Griechenland vertieft (Pahl 2021). Hierbei brachte er unter anderem einige der in Generative Realitäten I entwickelten Konzepte – Grade zivilisatorischer Kapazitäten, Abstraktionsstufen, Formzusammenhang – zur Anwendung, wobei deren Erklärungsleistungen mittels der äußerst differenzierten, umgreifenden und detaillierten Rekonstruktion der Geldgenese unter Rückgriff auf das aktuelle Wissen zur Frühgeschichte belegt werden konnte. Mit Pahls Studie liegt eine erste transdisziplinär ausgerichtete, soziologisch-kulturevolutionäre Nachzeichnung der Entstehung von Geldwirtschaften vor, in der die Koevolution von Geld, Geist und Gesellschaft plastisch herausgearbeitet und die kumulative Folge von Abstraktionsgraden im Zivilisationsprozess im Detail nachgewiesen wurde. Die Studie stellt nicht nur eine herausragende historisch-rekonstruktive Pionierarbeit dar, sondern wird auch als Vorlage für weitere Untersuchungen der koevolutionären Entwicklungsgeschichte von Währungsformen, Kognitionsstrukturen und Institutionen anhand des Konzepts der Abstraktionsgrade bis in die Gegenwart hinein dienen.

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Randnotiz 4. Jürgen Renn, Die Evolution des Wissens. Eine Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän (2020/2022)
Die Ansicht, dass die Evolution und Geschichte des Menschen, der Kultur, des Wissens und des Bewusstseins (mithin die Evolution der Technosphäre und Noosphäre) als ein regulärer Naturprozess begriffen werden muss, der von Entwicklungsprinzipien und -mechanismen bestimmt und von universalen Entwicklungsgraden durchzogen ist, bestätigte sich jüngst durch eine weitere Veröffentlichung. Im Jahr 2020 legte Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, eine umfassende Nachzeichnung der Evolutionsgeschichte des Wissens vor (The Evolution of Knowledge: Rethinking Science for the Anthropocene; Renn 2020), die 2022 auch in einer deutschsprachigen Ausgabe erscheint (Renn 2022). Ein zentrales Konzept in seiner Rekonstruktion der Wissensgeschichte ist die „iterative abstraction“ nach Peter Damerow, die Renn im Glossar seines Buches (eingeführt in Renn 2020, S. 58-60) so definiert:

iterative abstraction: The historical process through which a hierarchy of reflective abstractions is formed. This hierarchy is based on the possibility of generating a new level of abstraction by a reflection on material practices typically involving external representations such as, for instance, the constructed diagrams of Euclidean geometry, which themselves result from reflection on more elementary and historically antecedent experiences (such as the use of ruler and compass in surveying practices).” (Renn 2020, S. 417).

Spezifizierend fügt Renn der „iterativen Abstraktion“ ein weiteres Konzept hinzu:

recursive blindness: A side effect of iterative abstractions – the seeming independence of abstract concepts from the specific experiences and concrete actions from which they originated.” (Renn 2020, S. 417).

Als Schaubild gefasst (nach Renn 2020, S. 59):



Damerows „reflexive Abstraktion“, „iterative Abstraktion“ und „rekursive Blindheit“ nun beschreiben zusammengenommen einen Teilprozess des in Generative Realitäten I entwickelten Konzepts der „prozessemulativen Rekursion“ (vgl. Löffler 2019, S. 199-204) bzw. eine Spezifizierung des Entwicklungsprinzips der kumulativen Musterfreistellung (vgl. Löffler 2019, S. 298-332). „Prozessemulative Rekursion“ bezeichnet den kulturevolutionär-zivilisationsgeschichtlichen Entwicklungsmechanismus der Abstraktion und Wiedereinführung eines Vorgangs in eine hierarchisch höhere Integrationsebene. Dies wurde mit Bezug auf die Technologieentwicklung in der frühen Kulturevolution so eingeführt:

„[D]iese Wiedereinführung früher entwickelter kultureller Verhaltensweisen und technischer Assemblagen in spätere beschreibt die prozessemulative Rekursion. Die Kernthese und das Kernkonzept dieser Studie ist, dass das Prinzip der prozessemulativen Rekursion nicht nur der Entwicklungsfolge der Kapazitäten in der frühen Kulturevolution als entwicklungslogisches Muster zugrunde liegt, sondern auch Entwicklungsgraden in der Zivilisationsgeschichte.
Die Stufen der Erweiterung kultureller Kapazitäten können formal als Grade der Rekursion oder Wiedereinführung von Prozessen in höhere operative Zusammenhänge gefasst werden. Dabei werden Prozessformen abstrahiert, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst, materiell externalisiert und emuliert. Hierdurch entsteht zugleich eine hierarchisch höhere Integrationsebene von Operationseinheiten. Die prozessemulative Rekursion vollzieht sich also in einem Dreischritt: Abstraktion, Materialisierung/Externalisierung, Emulation.“ (Löffler 2019, S. 199).

„Mit der Entstehung jeder höheren Integrationsebene erhöht sich daher die Abstraktionstiefe gegenüber der vorherigen und es treten neue universale platonische Prozessformen auf. Das Muster der diskreten Steigerung von Kapazitäten durch prozessemulative Rekursion vorheriger Kapazitäten zieht sich von der Urgeschichte bis in die Gegenwart.“ (Löffler 2019, S. 204).

Eine Illustration des Auftretens des Prinzips der Rekursion und der Hierarchieebenen (Löffler 2019, Abb. 7, S. 202) in der frühen Technologieentwicklung während der Kulturevolution vermag dies zu veranschaulichen: Jede kumulativ höhere Technologie enthält in ihrer materiellen Form die Abstraktion der vorherigen Assemblage.



Tatsächlich bezeichnete ich ursprünglich die „prozessemulative Rekursion“ noch als „iterative Emergenz“, modulierte dann jedoch den Begriff dahingehend, dass die „Iteration“ beibehalten bleibt („Rekursion“), zugleich aber die Prozessualität (Vorgangsgebundenheit) berücksichtigt wird. Warum? Weil sich das Prinzip der „prozessemulativen Rekursion“ bzw. schematisch der „iterativen Abstraktion“ nicht nur auf die Wissen(schaft)sgeschichte beziehen lässt bzw. deren wesentliches Entwicklungsmuster darstellt, sondern dieses auch in Vorgängen bzw. Entwicklungen aller weiteren soziokulturellen und technischen Bereiche auftritt. Es handelt sich also um ein allgemeines, universales Entwicklungsmuster in der Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte (darum lautete der Titel der 2016 eingereichten Dissertation, auf der Generative Realitäten I beruht, „Rekursion zivilisatorischer Kapazitäten als Entwicklungsmuster in der Zivilisationsgeschichte“). Während also Renn das Prinzip der „iterativen Abstraktion“ und der einhergehenden Hierarchiestufen der Abstraktion aus der Wissenschaftsgeschichte ableitet und das Prinzip primär auf diese anwendet, ist in Generative Realitäten I bereits der nächste logische, umgreifendere Schritt ausgearbeitet. Darin wird die „iterative Abstraktion“ verallgemeinert als „prozessemulative Rekursion“ und als ein basales Entwicklungsprinzip identifiziert, das in vielen anderen Bereichen außerhalb der Wissenschaftsgeschichte wirksam ist, leicht einsichtig in der Technologieentwicklung, aber auch in der historischen Entwicklung der Ökonomie, der Medien, der Mathematik, Philosophie, Kunst, den Weltbildern und den Kognitionsstrukturen usw. Einen Zoom in hoher Detailauflösung auf einen solchen „iterativen“ Abstraktionsschritts innerhalb eines spezifischen soziokulturellen Bereichs unternahm wie oben umrissen Hanno Pahl, der zeigte, dass das Prinzip der „prozessemulativen Rekursion“ bzw. „iterativen Abstraktion“ auch der Evolution des Geldes zugrunde liegt (Pahl 2021). Man kann Jürgen Renns Werk analog hierzu als einen Zoom auf einen gesonderten Bereich der menschlichen Geschichte auffassen, nämlich auf die Wissenschaftsgeschichte, der die Konzepte in Generative Realitäten I bestätigt (ähnlich extensiv wie in Hanno Pahls Studie).
In Renns Buch geschieht diese Bestätigung bemerkenswerterweise zugleich auf drei Weisen bzw. Ebenen, nämlich empirisch-deskriptiv, epistemologisch-ontologisch und real kulturevolutionär:

1. Renns evolutionäre Rekonstruktion der Wissenschaftsgeschichte aus kulturevolutionärer Perspektive entdeckt und bestätigt in sehr viel höherem Detailgrad dieselben wissenschaftsgeschichtlichen Befunde und zivilisationstheoretischen Konzepte, die in Generative Realitäten I entdeckt und entwickelt wurden (vgl. Löffler 2019, Kap. 8.2, 8.4.-8.6, 9.3, Anhang 4) – dies freilich kein Zufall, da ich mich an vielen Stellen auf die heutige und frühere Forschung des MPIWG bezogen habe. Bei Renn, so sei hier differenziert, bleiben jedoch die übergeordnete, vertikale Kumulationslinearität unterbetont und demgegenüber die kontingenten lokalen Wissenskulturen überbetont, weshalb das Buch auch knapp an der Einsicht in die übergreifende Logik der Koevolution und kumulativen Stadienfolge vorbei geht, somit die Evolution der „Technosphäre“ (Löffler 2009) nicht vollständig abgebildet wird und darum das „Anthropozän“ nur formal vollumfänglich begriffen ist: Es fehlt die Berücksichtigung der unten angeführten weiteren soziokulturellen Bereiche und Phänomene im koevolutionären Wechselspiel sowie deren „Formzusammenhang“.

2. Dass Renn in seinem Ansatz unabhängig von meinem dieselben Entwicklungsprinzipien freistellt, muss als „Konvergenz“ und „multiple Entdeckung“ verstanden werden, womit sich dieses Prinzip, das in Generative Realitäten I als wesentlicher Schlüsselbefund herausgestellt wurde (vgl. Löffler 2019, S. 43-46, 133-136, 642-654), im Erscheinen des Buches von Renn selbst bestätigt. Man kann hieran also quasi „live“ miterleben, wie Kulturevolution prozessiert, und zwar regelhaft, durch die Autoren und ihr Denken hindurch: Beide unabhängig voneinander entstandenen Werke konkretisieren denselben kumulativen Schritt der Erhöhung der Weltauflösung, Abstraktion und Integration. Die neue Epistemologie und Ontologie äußert sich in dieser Konvergenz – als diese Konvergenz!

3. Dies wiederum bestätigt die Ableitung, dass sich um ca. 2020 herum eine neue wissens-, epistemologie- und wissenschaftsgeschichtliche Phase anzubahnen beginnt, die „neosynthetische Phase“ (Löffler 2019, S. 119-140) bezogen auf die Kulturevolutions- und Geschichtsforschung und der „Generative Prozessualismus“ als engere Phase bezogen auf die Epistemologiegeschichte ab 1900 (Technologische Zivilisation). Sie löst den systemrelativistischen „Hybridenmaterialismus“ (2000-2020, New Materialism, ANT usw.) ab, indem sie den kumulationslogisch nächsten Schritt realisiert (Löffler 2019, S. 646-649, Tab. 9). Die „multiple Entdeckung“ der „prozessemulativen Rekursion“ bzw. der „iterativen Abstraktion“ ist somit selbst Ausdruck einer neuen Entwicklungsstufe der Kulturevolution, einer neuen Stufe der Abstraktion und der „Resolution“ (Weltauflösung und Integration von Ereignissen), die als Ausdruck desselben Segments im „Realisierungskegel“ der Technologischen Zivilisation gelesen werden muss. Es bestätigt sich hierin auch der „Formzusammenhang“ dieses zivilisationsgeschichtlichen Segments als real existierendes Phänomen (vgl. Löffler 2019, S. 646-653).


Jürgen Renns großes Werk beleuchtet also bildlich gesprochen vorrangig eine „Seite“ des „Würfels“ Kulturevolution, einen Aspekt der Zivilisationsgeschichte, nämlich den wissenschaftsgeschichtlichen (analog hierzu Hanno Pahl den ökonomiegeschichtlichen), während in Generative Realitäten I der gesamte „Würfel“ berücksichtigt und umrissen, also alle weiteren Dimensionen der kulturell-technologischen Entwicklung und deren koevolutionären Wechselwirkungen bis in die Gegenwart hinein abgebildet wurden. Hierdurch erst, so die leitende Überzeugung, lassen sich kulturevolutionäre Aussagen über die Gegenwart und Zukunft ableiten und das „Anthropozän“ verorten. Neben der Zusammentragung der Befunde in Tabelle 8 (Löffler 2019, S. 600 f.) mag die graphische Zusammenfassung der Rekursionsstufen in der Zivilisationsgeschichte (Löffler 2019, Abb. 16, S. 599) einen Eindruck davon vermitteln, dass wir uns gegenwärtig im Aufbruch einer sehr exakt bestimmbaren neuen Phase der Menschheitsgeschichte befinden.

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Randnotiz 5. Matthias Schemmel, Historical Epistemology of Space: From Primate Cognition to Spacetime Physics (2016)
Ein persönlicher akademischer Hintergrund von Generative Realitäten lag in meiner Beschäftigung mit der Raumsoziologie und Raumtheorie während meines Studiums Anfang der 2000er Jahre. Die Thematisierung des Raums (ein weiterer „turn“: der „spatial turn“, also wie alle anderen „turns“ des 20. Jhdts. einfach ein neues disziplinüberspannendes Themensyndrom in den Geisteswissenschaften) hatte Konjunktur in Folge der Globalisierung und der Ausbildung des Cyberspace während der 1980er und 1990er, welche die alten Vorstellungen von Räumen in Frage stellten (Übersichten bieten etwa Raumsoziologie von Martina Löw aus dem Jahr 2001, Markus Schoers Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Raumsoziologie oder Günzel und Dünnes Sammelband Raumtheorie aus dem Jahr 2006). Im Nachgang dieses „spatial turns“ formierte sich 2007 der Forschungscluster TOPOI mit Verbindung zum Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte (MPIWG), der sich der historischen Entwicklung von Raumkonzepten widmete. Die Forschungen dieses Clusters liefen parallel, wenn auch etwas zeitversetzt, zu den Forschungen in den anderen Geisteswissenschaften, so dass sich verschiedene Stränge unabhängig voneinander entfalteten. Dabei ist bemerkenswert, dass sich die Befunde im Detailgrad naturgemäß zwar teils erheblich unterscheiden, inhaltlich aber oft übereinstimmen. Gleich ob man von methodologischen und paradigmatischen Standpunkten etwa der Wissenschaftsgeschichte, Historischen Anthropologie, Emotionsgeschichte, Soziologie, Technikanthropologie oder Kulturgeschichte an den Raum herangeht, zeigen sich dieselben geschichtlichen Zäsuren. Derartige überfachliche Konvergenzen ermutigen zur Annahme, echtes Wissen errungen zu haben. Aus dem TOPOI-Cluster ging auch Matthias Schemmels einschneidende Studie zur historischen Epistemologie des Raumes hervor. Das Werk mit dem Titel Historical Epistemology of Space. From Primate Cognition to Spacetime Physics wurde 2016 veröffentlicht, also im selben Jahr, in dem ich GRI als Dissertation eingereicht habe, so dass ich das Buch damals leider nicht berücksichtigen konnte, wo es doch viele Daten zur weiteren Stützung des Kapazitätenansatzes bereitstellt. Im Folgenden will ich auf sehr verknappte Weise zeigen, wie sich Schemmels wissenschaftshistorische Rekonstruktion der Epistemologien des Raumes, besonders der darin angewendete paradigmatisch materialistische Ansatz, zu den kulturevolutionär-zivilisationstheoretischen Befunden und Perspektiven in GRI verhält.

Schemmel beschreibt das Anliegen des Buches so: „This book should be viewed as a first attempt in the direction of a historical epistemology of space. Its main goal is to show that such a historical epistemology is possible at all: that the different forms of spatial knowledge are indeed related in their development, and that the study of this interrelated development may indeed provide insights into their epistemic status.” (Schemmel 2016, S. V). Tatsächlich mutet es für Raumsoziologen, Raumtheoretiker oder Historische Anthropologen etwas seltsam an, dass erst ein Nachweis geführt werden müsste, dass eine historische Epistemologie der Raumwahrnehmung denkbar wäre, denn die Einsicht, dass Raumvorstellungen historisch wandelbar sind, war bereits die Grund- und Ausgangslage der sozialtheoretischen und (neueren) philosophischen Behandlung des Raumes gewesen: Die für das Denken des 20. Jahrhunderts charakteristische Leitidee, dass Wirklichkeiten stets historisch und kontingente Konstrukte sind, umfasst natürlich auch den Raum, wobei insbesondere an diesem Gegenstand diese Einsicht sehr offen zu Tage tritt, um nicht zu sagen trivial ist, denn, um es an einem Beispiel zu illustrieren, früheren Kulturen standen die technischen, medialen und epistemologischen Mittel offenkundig gar nicht zur Verfügung, um moderne Raumbegriffe wie den der Relativitätstheorie entwickeln zu können. Folglich können die Raumkonstruktionen von vorneherein nicht in allen Kulturen homogen sein. Auch viele interkulturelle Studien zur Kognitionspsychologie wie die von Hallpike oder Dux aus den 1980ern zeigten, wie unterschiedlich selbst in gegenwärtig existierenden Zivilisationen je nach Technik- und Medienstand Zeit- und Raumstrukturen imaginiert bzw. modelliert werden (siehe hierzu Dux in Logik der Weltbilder von 1982, Hallpike in Primitive Thought von 1979/1990; Schemmel führt zwar einige solcher Ansätze auf (vgl. Schemmel 2016, S. 3, Ziff. 8), dies aber nur in selektiver Auswahl ohne Vertiefung oder weitere Aufnahme; zugleich werden lediglich „evolutionäre Biologie“, „Entwicklungspsychologie“ und „Wissenschaftsgeschichte“ als Disziplinen angeführt, die für den „developmental view on cognition“ stehen (ebd., S. 2), während alle anderen Fächer wie die Historische Anthropologie, historisch-genetische Theorie oder kognitive Archäologie, in denen die Verbindung und Koevolution von Gesellschafts- und Kognitionsentwicklung lange thematisiert und unterschiedlich begründet wurde, nicht erwähnt sind). Hieran wird die unglückliche Abgeschlossenheit der Disziplinen untereinander schmerzlich kenntlich, denn diese Studien und Ansätze zu berücksichtigen hätte sicherlich eine andere Grundlage abgegeben für die Erstellung einer historischen Epistemologie des Raumes, alleine schon deswegen, weil man sich dann, wie Schemmel es einleitend tut (ebd., S. 1ff.), nicht der Chimäre eines kantianischen Apriori des Raumes als Abgrenzungspunkt und Kontrastmittel hätte bedienen müssen und gleich hätte ansetzen können auf dem Forschungsstand der anderen Fächer (die eben zumeist, genau wie auch Schemmel in Nachfolge von Damerow, von Piaget ausgingen). Aber Theoretisierung, Deduktion, Generalisierung auf der einen Seite und konkreter historisch-empirischer Nachweis auf der anderen sind zwei sehr verschiedene Dinge, und insofern muss Schemmels Studie tatsächlich als ein substanzieller Fortschritt gelten, gar als Meilenstein dieser Forschungslinie, da darin in hoher Auflösungsstufe und Exaktheit die jeweiligen Epochen der Raumkonzeptualisierung in bislang nicht erreichter Deutlichkeit herausgearbeitet sind und nun als empirisch nachgewiesen gelten können, zumindest im Rahmen des Bereichs der Wissenschaftsgeschichte (um diese fachliche Einengung und ihre epistemologischen Folgen stärker zu verdeutlichen eine Anmerkung: Welche Fragen würden sich ergeben, wenn man eine Epistemologie des Raumes ausloten würde, die bspw. Währungsformen oder Medienarten als Vermittlungsmedium einbezieht? Ist der Münze eine andere Raumvorstellung implizit als dem Kapital? Wie hängt dies dann mit technischen und sozialen Entwicklungen zusammen? Bestehen Korrespondenzen bspw. zwischen Ökonomiestrukturen und „historical epistemologies of spaces“? Es ist also noch viel „Raum“, um Aussagen über den Raum neben der Wissenschaftsgeschichte des Raums zu treffen).

Anhand der jeweiligen historischen Vermögen und Verfahren zur Modellbildung (in Mathematik, Geometrie, Landvermessung, Astronomie, Physik) arbeitet Schemmel die historische Entwicklung von Raumbegriffen heraus. Zunächst werden in einem knappen Theorieteil die epistemologischen Grundlagen erläutert (vgl. ebd., S. 9-31), die als heuristisches Muster und Interpretationsfolie der Deutung empirischer wissen(schaft)sgeschichtlichen Daten dienen. Als basale und universale Kognitionsfähigkeit versteht Schemmel die interne Repräsentation der Umwelt und die Bildung von Modellen, durch die Handlungen strukturiert werden. Wesentlich hierfür ist die Objektpermanenz, die sich während der Ontogenese ausbildet und zu Objektschemata führt, welche die Grundlage der Möglichkeit von Übertragungen abstrakter Modelle auf die Wirklichkeit darstellt, oder anders ausgedrückt: die Schematisierung der Wirklichkeit, darunter des Raumes, nach abstrakten Modellen ermöglicht (vgl. ebd. S. 10f.). Hierzu gehört zentral auch die Ausbildung eines Raumbegriffs, da dieser quasi die Hülle für bewegte Objekt, für die Handlungen von Agenten gegenüber beweglichen Objekten und für die Orientierung zwischen deren Relationen untereinander darstellt. Die Kontrolle sensomotorischen Verhaltens gegenüber Objekten beruht auf „mental models“, die jedoch auch über die unmittelbar körpernahen Umwelten hinausreichen können und dann als „mental models of large-scale space“ fungieren (vgl. ebd. S. 17f.). Diese spielen bei der Koordination von Handlungen über großflächige, nicht direkt anschauliche, körperdistale Räume eine wesentliche Rolle. So verlangt nicht nur die ausschweifende Suche nach Nahrung, sich an „landmarks“ zu orientieren und dabei „Landkarten“ (Raumkarten) zu entwickeln. Darüber hinaus gilt es in komplexeren arbeitsteiligen Gesellschaften diese abstrakten Raumabbildungen, die über den individuellen Wahrnehmungsraum hinausgehen und das Kollektiv betreffen, kommunizierbar, verfügbar und tradierbar zu machen, und damit auch sukzessive zu universalisieren, d.h. zu präzisieren, zu abstrahieren und zu formalisieren. Hierin liegt dann auch der Kern von Schemmels Epistemologie, die sich mit der materialistischen Epistemologie des MPIWG (siehe oben in der Anmerkung zu Renns Evolution des Wissens) deckt: Raumwissen, Raummodellierungen und die mediale Formatierung desselben sind stets auch praktisches Wissen. Darum sind sie nicht von den Mitteln der Lebensbewältigung zu trennen, d.h. von den Technologien, Medien- und Sozialformen. Kognitive Fähigkeiten, Raumvorstellungen, Technologie- und Kulturstrukturen hängen durch das Scharnier der Praxis miteinander zusammen, und da sich die Praxisstrukturen historisch wandeln, ist es auch möglich, eine „historische Epistemologie des Raumes“ zu entfalten.

So ergeben sich nach Schemmel vier charakteristische Merkmale der Raummodellierung, die alle Raumbegriffe bestimmen: „its transmission through external knowledge representations; its cultural organization; its dependence on the specific contexts of action; and its locality” (ebd., S. 28). Wesentlich ist zum einen, dass kulturelle Einflüsse wie Kosmologien, Religionen oder Ritualität in die Raumkonzeptionen einfließen und somit der Raumbegriff niemals in einer Art kantianischen Reinform vorliegt, sondern immer auch einen konstruierten Anteil hat und sich darum historisch verändern kann (Bammé arbeitet dies für Kognitionsstrukturen im Allgemeinen in dem sehr lesenswerten Kapitel „4.4. Von der Psychogenese zur Soziogenese des ‚reinen‘ Denkens“ in Homo Occidentalis heraus; vgl. Bammé 2011, S. 344-357). Hierin findet man bereits konzeptuelle Überschneidungen mit der soziologischen und historisch-anthropologischen Raumtheorie, für die solche Gedanken nichts Neues sind, so wenn etwa bestimmte Raumkonstitutionen als klassen- und habitusbestimmt erklärt werden. Schemmel stellt jedoch einen weiteren wesentlichen Aspekt in den Vordergrund, nämlich die Medialität, und zwar in Form eines Begriffs, der sich am MPIWG eingespielt hat, der „externalized knowledge representation“ (zentral auch bei Renn 2020, wie oben dargestellt). Dieser Zusatz ist von immenser Bedeutung, weil nun die Raumkonzeptionen zunehmend gebunden werden an die Kulturtechniken (in der Begrifflichkeit von GRI: „zivilisatorische Performanzen“) der Einfassung von Konzepten und Modellen in mediale Formen, d.h. in mathematische Zeichen, Zahlzeichen, Operationszeichen und Geometrien. Deren Strukturen selbst nun geben den Rahmen der Möglichkeiten vor, wie Raum diskretisiert und modelliert werden kann, so dass eine neue Komponente, ein neuer Faktor in die Formierung der Raumbegriffe einfließt, nämlich eine quasi-materialistische in Form der Grenzen und Möglichkeiten der Operationszeichen zur Einfassung des Raumes (anders jedoch als in Kittlers materialistischer Medientheorie ist es nicht nur die konkrete Materialität des medialen Substrats, etwa Lehmtafeln und Griffel oder Papier und Stift oder Transistoren, sondern die „Materialität“ der Funktionslogiken der Zeichen, ihrer ihnen einliegenden Verhältnisse und Operationsformen). Ein wesentlicher „Zwang“, der sich aus dieser „epistemischen Materialität operativer Zeichen“, wie ich es hier nennen möchte, ergibt, ist etwa die Notwendigkeit zur Standardisierung sowohl der Zeichensätze als auch der damit abgebildeten Größen, d.h. Einheiten jeder Form, der Zahleinheiten, Maßeinheiten, Raumeinheiten (ohne Konsens über Einheiten macht eine Übertragung anschaulicher konkreter Größen auf eine Fläche als Abstraktionen keinen Sinn). Ebenso werden sich später, was die Griechen besonders umtreiben wird, etwa aus den geometrischen Anordnungen, die bereits losgelöst und abstrahiert sind von wirklichen Objekten, „natürliche“ Regularitäten innerhalb der Zeichenstrukturen ergeben, so etwa jene, dass die Winkelsumme eines Dreiecks im euklidischen Raum immer 180 Grad beträgt – eine Regularität (Erkenntnis, Muster), die nur durch eine vorherige abstrakte Einheitsstandardisierung hervortreten und als Ableitung aus dem idealen Strukturraum diskreter Mathematik oder Geometrie sich herausbilden kann, also eine Strukturnotwendigkeit aufgrund der „epistemischen Materialität operativer Zeichen“ darstellt. Insofern, so kann man Schemmels Ansatz auch interpretieren, wird die „historical epistemology of space” zugleich und in erster Linie zu einer Rekonstruktion einer Matrix der Zeichen, durch die der Raum erfasst wurde. Hier schließt sich dann die Verbindung zur Wissenschaftsgeschichte, die nichts anderes ist als der Ausbau der Modellierung der Wirklichkeit auf Basis von „Exogrammen“ (Donald 2012) oder, wie man am MPIWG etwas spezifischer und enger geschnitten zu sagen pflegt, den „externalized knowledge representations“ (Exogramme gehen über formale Wissensrepräsentation hinaus und umfassen – dies der bedeutende Unterschied – etwa auch Münzen, Kunstwerke oder Architekturen). Eine historische Epistemologie des Raumes wird dementsprechend auf eine Unterscheidung zwischen Strukturen von zeichenbasierten Matrizen der Raumerfassung hinauslaufen müssen: Es werden Unterschiede in den Möglichkeitsräumen der Operationszeichen sowie der Anzahl der verfügbaren Operationszeichen herauszuarbeiten sein.

Und auf dieser Grundlage identifiziert Schemmel dann auch vier Brüche oder Phasen der Raumkonzeptualisierung oder Raumepistemologie, die sich mit Beginn und in den Jahrtausenden nach der Entstehung der Schrift herausgebildet haben (d.h. nach den präliteralen Gesellschaften, die Hallpike auch als „pre-newtonian societies“ charakterisiert und deren Raumkategorien er im Vergleich zu modernen herausgearbeitet hat; vgl. Hallpike 1990, S. 203-208, S. 347–366). Verkürzt dargestellt sind dies Folgende:

Hochkulturen, hier Mesopotamien, ca. 3000 v.u.Z.: Praktisches und frühes mathematisches Wissen durch Ausbau der „externalized knowledge representations“, Metrisierung des Raums und formale Standardisierung der Maßeinheiten, Abstraktionen erster Ordnung (vgl. Schemmel 2016, S. 39f.);

Griechenland, ca. 600 v.u.Z.: Theoretisches Wissen basierend auf der Dekontextualisierung von der Praxis und Reflexion der vorherigen „externalized knowledge representations“, Regularitäten zwischen Abstraktionen (vgl. ebd. S. 60 f);

Neuzeit, ca. 1600: Theoretisches Wissen in Kombination mit empirischem Wissen; sphärische Erde, absoluter Containerraum, Koordinatensysteme (vgl. ebd. 83f.);

20. Jahrhundert: Fachspezifisches theoretisches Wissen, das von der Aufspaltung des Raumes in die Untersuchungsbereiche Raum, Zeit, Energie und Materie ausgeht und in der Konzeptualisierung etwa der gekrümmten Raumzeit konvergiert (vgl. ebd. S. 102f.).

Um es kurz zu machen: Schemmel identifiziert hier anhand der aus den Kulturtechniken der Raumerfassung abgeleiteten „epistemologies of space“ nichts anderes als Arno Bammés „axiale Zäsuren“ (frühe Hochkulturen, axiales Griechenland, Neuzeit, Technologische Zivilisation) und darüber hinaus natürlich auch nichts anderes als die Grade zivilisatorischer Kapazitäten. Umgekehrt ausgedrückt: Schemmels Ausleuchtung der Geschichte der Raumepistemologie liefert einen weiteren Beleg für die Existenz der Zäsuren und Kapazitätsgrade, hier eben anhand des Sonderbereichs der sich koevolutionär mit den anderen zivilisatorischen Performanzen wandelnden Techniken der Raummodellierung und Raumvorstellungen (exakt korrespondierend also bspw. mit den Zäsuren der Zeitvorstellung, die sich wie der Raumbegriff mit jeder qualitativen Vertiefung der Operationsketten und Erweiterung der „globalen Ordnung“ verändert; vgl. Löffler 2019, S. 204-208, für Griechenland S. 488, für die Neuzeit S. 552ff., für die Technologische Zivilisation S. 584ff., zur Übersicht siehe Tab. 8 auf S. 600f.). Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Bei Schemmel stellen sich diese Epochen als autonome Phasen dar, nicht als kumulativ und abstraktionsgeschichtlich-logisch aufeinander aufbauende Integrationsebenen. Er erkennt keine allgemeine Stufenfolge der kumulativen (oder prozessemulativ-rekursiven) Abstraktion in den jeweiligen Phasen der Raumepistemologie. Lediglich stellenweise sind Sequenzen der „reflexiven Abstraktion“ im Sinne Damerows in der Entwicklung der medial vermittelten Raumvorstellungen ersichtlich, die jedoch durchbrochen wird von kontingenten Sprüngen. Wie das zu verstehen ist, versuche ich im Folgenden knapp zu erläutern.

Beispielsweise hält Schemmel im oben genannten Sinne einer „epistemischen Materialität operativer Zeichen“ für die Entwicklung der Raumrepräsentation in Mesopotamien fest: „Through the application of the sexagesimal place value system, with its general procedures for addition, subtraction, multiplication, and division, and in combination with an abstract system of units defined by its internal relations, the metric structure of space becomes more general and more unified. This illustrates how in certain historical situations the emergence of new means of knowledge representation in specialized practical contexts (surveying) may lead to a dynamic of knowledge development that brings about knowledge structures no longer directly related to that context (Babylonian geometry)“ (Schemmel 2016, S. 39; Herv. DL). Hier wird also kenntlich, dass die Übertragung der Modelle in Zeichen in diesem neuen medialen Raum neuartige, emergente Regularitäten innerhalb der Zeichenrelationen freisetzt (als Konsequenz der oben eingeführten „epistemischen Materialität operativer Zeichen“), die mit Damerows Abstraktionsfolge gut zu fassen ist (allgemeiner handelt sich hier aber auch um die Freistellung von Mustern in Mustern, weiter gefasst also um das weltgenetische Rekursionsgesetz; vgl. Löffler 2019, S. 298-327; siehe hierzu die Anmerkung zu Renns Evolution des Wissens oben). Dass die Abstraktionshöhe der Kulturtechniken (bzw. zivilisatorischen Performanzen) der Hochkulturen (hier Mesopotamiens) jedoch selbst nur eine Etappe darstellt wird deutlich, wenn sie mit den Kulturtechniken der Griechen in Verhältnis gesetzt wird, die kumulativ daraus hervorgehende Errungenschaften darstellen, so wie auch Schemmel es festhält: „Despite its novel degree of abstraction and its thorough metrization of area, the space of Babylonian geometry actually differs from Euclidean space. The procedures of Babylonian geometry are of a limited generality which testifies to their origin in administrative practices. In particular, there is the absence of the consideration of angles as ‘objects of mensuration,’ which is rooted in the implicit definition of area by means of the surveyors’ formula“ (Schemmel 2016, S. 40). Und dann ganz im Sinne Damerows: „The reflection on first-order representations (constructed figures) led to a generalization of spatial concepts which implied a de-contextualization: what was a theory of constructed figures became interpreted as a theory of space, decoupled from what fills space. The reflection on second-order representations (deductively organized sets of statements) then further generalized the spatial concepts, but at the same time brought about the reontextualization of geometry when the role of rigid bodies and light rays for establishing the geometry of physical space was appreciated” (ebd., S. 61). Diese beiden Phasen der Raumkonzeptualisierung in Mesopotamien und Griechenland sind also eindeutig unterscheidbar insofern, als dass in den jeweiligen Formen der „externalized knowledge representations“ die Entwicklungslogik der „reflexiven Abstraktion“ wirksam ist: Die Griechen operieren auf einem eindeutig aufzeigbaren einstufig abstrakteren Niveau als die Mesopotamier. Dennoch erscheint unter den konzeptuellen Möglichkeiten der von Schemmel angelegten Wissenschaftsgeschichte der weitere Verlauf der Raumstrukturen insgesamt kontingent. Wie Schemmel zu diesem Schluss kommt, lässt sich ebenso leicht aufzeigen, wie auch, dass dieser Schluss unzureichend ist.

Schemmels Studie arbeitet also zunächst sehr präzise deskriptiv und epistemologieanalytisch heraus, dass sich die vier Großphasen der Raumepistemologie eindeutig voneinander unterscheiden und darüber hinaus auch tatsächlich „Entwicklungsstufen“ darstellen, da sie auseinander hervorgehen (es gibt also keinen „Sprung“ bspw. von den Wissensstrukturen Mesopotamiens etwa zu denen des 20. Jahrhunderts). Somit wurde der erste Teil des Erkenntnisinteresses eingelöst, nämlich dass sich eine historische Epistemologie der Raumkonzepte erarbeiten lässt. Jedoch ist es aufgrund des aus geschichtswissenschaftlich-methodologischen Gründen sehr eng geschnürten Theoriepakets als interpretativer Grundlage und dem Fokus auf den Sonderbereich der Raumkonzeptualisierung Schemmel dann doch nicht möglich, den nächsten Schritt zu tun und die selbst gestellte Frage – das zweite Erkenntnisinteresse – zu beantworten, nämlich, ob es eine Logik in der Abfolge der Phasen des Raumbegriffs gibt (anmerken könnte man vielleicht, dass hierfür auch die in den letzten Jahren dominant gewordene Konfigurationsgeschichte verantwortlich sein könnte, wie ferner möglicherweise auch der Einfluss eines über den fachlichen Nutzen hinaus getriebenen anti-entwicklungstheoretischen Zeitgeistes, der leicht zu einem normative bias führt, d.h. man sucht gar nicht erst nach dem, was ja ohnehin nicht sein kann, weil es ja nicht sein darf). Die Phasen bilden also eine kumulative Folge, dies aber nur insofern, als dass ohne die Errungenschaften der vorherigen eine spätere Phase nicht möglich ist (also erstmal lediglich „Entwicklung“ stattfindet, wie es bei Schemmel in einer lesenswerten Fußnote definiert wird, als auseinander hervorgehend; vgl. ebd., S. 4, Ziff. 11). Wenn auch an vielen Stellen in der Raumkonzeptualisierungsgeschichte eindeutig Damerows „reflexive Abstraktion“ als Entwicklungsmuster auftritt, so wird der Gesamtverlauf dennoch als kontingent erklärt, was an der Zäsur der neuzeitlichen Raumkonzeptualisierung zum Vorschein kommt.

Die neuzeitliche Raumkonzeptualisierung beruht nun nicht mehr nur auf dem Ausbau „theoretischen Wissens“, das bei den Griechen Vorrang hatte, die nach den ersten Errungenschaften der Hochkulturen nun innerhalb der von der Praxis gelösten Zeichenstrukturen, etwa in der Geometrie, operieren und formales Deduktions- und Beweiswissen ableiten. Vielmehr geht die neuzeitliche Raumkonzeptualisierung – eben im Gegensatz zu jener der Griechen – nun wesentlich von der Empirie aus, d.h. sie beruht auf der messenden wissenschaftlichen Methode, den neuen Instrumenten und Medienapparaten. Neben den rein „innerwissenschaftlichen“ Entwicklungen, d.h. den Abstraktionserhöhungen innerhalb der „externalized knowledge representations“, an denen sich Damerow „reflexive Abstraktion“ als Entwicklungsmuster einstellen kann, tritt ein außerwissenschaftlicher Einflussfaktor auf, der scheinbar die logisch-sequenzielle Abstraktionsfolge (Abstraktion 1. Ordnung, 2. Ordnung, n-ter Ordnung etc.) durchbricht. Darum scheint auch die Geschichte der Raumkonzeptualisierungen kontingent zu sein, da sie eben keinen „internen“ entwicklungslogischen Verlauf aufweist, sondern von den weiteren soziokulturell-technischen Entwicklungen abhängt. Dieser Eindruck oder Schluss wurzelt jedoch lediglich darin, dass dieser „Einbruch“ von außen nicht von der Innenseite der selegierten Beschreibungsebene her, also der Zeichen- und Modellentwicklung, auf die diese Wissen(schaft)sgeschichte des Raumes fokussiert ist, erklärbar ist. Dabei ist aber schlechterdings noch gar nicht geklärt, ob das „Einbrechende“ (hier die technologische Entwicklung in der Neuzeit) selbst kontingent ist oder nicht, und genauso wenig, ob bereits vorherige Entwicklungen nicht auch „von außen“ mitbestimmt waren, im Falle der Griechen etwa prominenterweise von der Ausbildung der Münzwirtschaft (ähnlich in China oder Indien). Demnach müsste zunächst nachgewiesen werden, dass die früheren Phasen nicht ebenfalls von äußeren Faktoren bestimmt waren, und dann auch, dass und inwiefern die „kontingenten“ äußeren Faktoren überhaupt in ihren eigenen Entwicklungsverläufen kontingent sind.

Aufgrund der metholologischen Beschränkung auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Zeichenpraxen und -formen ergibt sich also das Bild einer lokalen Kumulation bei gleichzeitiger globaler Kontingenz, welche dann kurzerhand für die gesamte Entwicklung postuliert wird (übrigens hält Schemmel auch in späteren Texten an diesem aporieverdächtigen, zumindest weiter zu analysierenden Doppelpostulat fest; vgl. Schemmel 2020). Reduziert man also die Geschichte der Raumkonzeptualisierung auf deren Einfassungen in „externalized knowledge representations“, d.h. auf die Mittel ihrer Darstellung, Modellierung und Operationalisierung, und zieht als einzig denkbares Entwicklungsmuster lediglich Damerows „reflexive Abstraktion“ heran, das sich darüber hinaus ausschließlich an den „externalized knowledge representations“ konkretisieren kann, dann kann man in der Tat keine Regularitäten detektieren, die außerhalb sowohl dieses Bereichs als auch dieses speziellen Musters liegen. Dann ist jeglicher Einfluss von außen eben zufällig und „irregulär“ und damit sind auch die Phasen der Raumkonzeptualisierung „irregulär“ und kontingent. Dann wären es auch die axialen Zäsuren und Grade zivilisatorischer Kapazitäten. Entwicklungen würden dann quasi „wie aus dem Nichts kommend“ erscheinen, also kontingent wirken. Aber ist dem so? Vor allem: Ist es nicht vorschnell und verengt, aus der Entwicklung der wissenschaftlichen Operationszeichen auch abzuleiten, dass jegliche Entwicklung kontingent ist?

Hier nun hilft das Kapazitätenmodell weiter, in dem Kumulation, Koevolution, Rekursion, Operationskettenentwicklung (Technik, Medien, Politik), Wissensentwicklung (Wissenschaft, Kosmologie) und Abstraktionsentwicklung (Weltbild und Kognition) integriert sind. Dies ermöglicht es, von der exklusiven Fokussierung auf die Entwicklung der „externalized knowledge representations“ abzusehen und anderen Faktoren und ihren Wechselwirkungen eine kausale Rolle zuzusprechen. Es ist ja gerade der für das MPIWG als programmatisch deklarierte Praxisbezug in der „historical epistemology“, der genau dazu zwingen muss, aus der einsinnigen Spur der Wissenspraxen, d.h. dem Entwicklungspfad eines Teilbereichs sozialer Evolution, auszuscheren und die Phänomene tiefer und breiter einzubetten. Genau hierfür wurde im Kapazitätenansatz der Begriff der Assemblage und des generativen Milieus in Anschlag gebracht. Wenn für die Neuzeit leicht einsichtig festgestellt werden kann, dass neue Formen von Mensch-Maschine-Assemblagen entstehen, etwa wissenschaftliche Messapparat-Hybride und mechanische Maschinen, und diese ausschlaggebend sind für den „Einbruch“ eines neuen Entwicklungsfaktors in die Entstehung der Modelle der Raumkonzeptionalisierung, dann müsste man auch fragen: Waren nicht auch die Griechen Teil von Assemblagen bzw. deren Kultur und Kulturtechniken nicht auch Ausdruck einer spezifischen Assemblage-Struktur, wie alle Kulturen und Kulturtechniken? Eben dies kenntlich zu machen ist der Vorteil des Kapazitätenmodells. Assemblagen bestehen aus instrumentell-technische Handlungsweisen vollführenden Agenten, die ihre Körperchoreographien an instrumentellen Zusammenhängen der soziokulturell-technischen Umwelt orientieren und in regulären Operationskettengefügen strukturieren (vgl. Löffler 2019, S. 188-195). Dies betrifft materielle Technologien wie etwa die Verwendung eines Hammers, die Einbindung in eine Arbeitsgruppe bei der Ernte oder auch das funktionalisierte Verhalten als Soldat in einer Phalanx – alle gleichermaßen eine hybride Mensch-Instrument-Assemblage. Allerdings wird an diesen Beispielen bereits deutlich, dass nicht lediglich die Anbindung an eine materielle Technik ausschlaggebend ist (Hammer, Pflug, Schild), sondern gerade auch die instrumentelle Anordnung von Akteuren untereinander eine Assemblage entstehen lässt (oder eine „polypodale Einheit“; vgl. ebd., S. 224-230). Darum betrifft die Einbindung in Assemblagen (Operationskettengefüge) auch soziale Rollen und codifizierte Verhaltensweisen in Institutionen oder allgemeiner in Slots der arbeitsteiligen Gesellschaftsmatrix: Der Rituale ausführende Hohepriester der Hochkulturen ist ebenso teil einer Assemblage (Mumfords „Megamaschine“) wie der griechische Händler in den ägäischen Kolonien, der Volksredner auf der Agora oder der Philosoph im Peripatos. Jegliches diskret strukturierte Verhalten ist immer eingebunden in einen Operationskontext und fügt sich ein in ein Praxennetzwerk bestehend aus ineinandergreifenden Assemblagen, seien diese technisch-instrumentell orientiert, seien sie ideell-kommunikativ orientiert. Und es sind eben diese soziotechnisch-instrumentellen Operationskontexte, welche die Objekte freistellen, die eine Bedeutung tragen und die Relevanzkontexte für instrumentelles Verhalten bereitstellen – und darunter eben auch die Objekte und Zeichen, die als „landmarks“ in konkreten oder abstrakten Raummodellierungen fungieren. Und hier nun wird deutlich, dass auch bei den Griechen die in den Kulturtechniken (zivilisatorischen Performanzen) errungene neue Abstraktionsebene eben nicht ausschließlich aus den „inneren“ Entwicklungen der „reflexiven Abstraktion“ der operativen Zeichen heraus zu deuten ist, sondern vor dem Hintergrund einer neuen Struktur des Assemblagenmilieus, eines „generativen Milieus“ (ebd., S. 456f.) entsteht. Denn nicht nur im Bereich der Wissensrepräsentation (Mathematik, Geometrie, Astronomie, Zahlensysteme, Kosmologie) bauen die Griechen auf den Errungenschaften der Hochkulturen auf, sondern auch in den Formen des Sozialen, Politischen, Medialen und Ökonomischen (detailliert hierzu Pahl 2021; Löffler 2019, S. 470ff.). Es muss also der gesamte Praxiszusammenhang in den Blick genommen werden, nicht nur eine der Entwicklungslinien eines Bereiches innerhalb des Praxiszusammenhangs. Dann wird deutlich, dass sich die Abstraktionserhöhung nicht nur im Bereich der Zeichenstrukturen äußert, sondern auch in allen anderen Bereichen. Es besteht also ein „Formzusammenhang“ der Kulturtechniken bzw. zivilisatorischen Performanzen der jeweiligen Epochen (siehe hierzu neben Pahl 2021, S. 5ff. und Löffler 2019, S. 482f., 518ff., 575ff., besonders auch Pahl 2023). Dieser besteht darin, dass die Phänomene jeweils in einer kumulativen Abstraktion bzw. prozessemulativen Rekursion aufeinander aufbauen und genau darum diskrete Zäsuren und Ebenen der hierarchischen Integration repräsentieren. Dann wird deutlich, dass und warum auch die Vermögen zur Raumkonzeptualisierung sich stetig erweitern: Sie sind jeweils der Ausdruck des Vermögens zur Integration von Agenten und Ereignisräumen über immer weitere Umfänge der Raumzeit hinweg, also Ausdruck spezifischer „zivilisatorischer Kapazitäten“ (zur Definition siehe Löffler 2019, S. 343-350). Und hierin liegt die Kontinuität und Geneselogik von Raumkonzeptualisierungen: Die Kontinuität ist nicht in den jeweiligen medialen Raumformatierungen und -phänomenalisierungen zu suchen, sondern in den Genesebedingungen, aus denen sie hervorgehen. Ähnlich verhält es sich mit der Zeitvorstellung: Aus den konkreten historischen Zeitgestalten oszillatorisch, zyklisch, absolut, eschatologisch und linear lässt sich keine Logik der Entwicklung extrahieren, wohl aber dann, wenn sie als Oberflächenphänomene unterliegender Erweiterungen von Operationsketten erkannt werden. Dann muss mit jeder qualitativen Erweiterung der Operationsketten auch eine neue Zeitstruktur und Zeitgestalt entstehen, und dasselbe gilt dann auch für „Raumgestalten“.

Mittels einer Synthese der verschiedenen Entwicklungsbereiche anhand der historischen Erweiterung der Operationsketten bzw. der Komplexitätssteigerung der Assemblagestrukturen ermöglicht das Kapazitätenmodell also die präzise Bestimmung der generativen Bedingungen der Abstraktionsentwicklungen und die präzise Auszeichnung diskreter Stufen darin: Jede Stufe ist gekennzeichnet durch die Erweiterung der Operationsketten aufgrund der Operationalisierung der Abstraktion der vorherigen Mittel der Integration von Operationsketten. Die jeweilige Raumkonstitution ist ein Epipänomen der Komplexitäts- und Abstraktionssteigerung der Assemblagestrukturen und muss darum von deren Entwicklung aus erfasst werden.

Der Vergleich im Schaubild soll dies verdeutlichen: Verwendet man das Konzept der Operationsketten, Kapazitätsgrade, den Begriff zivilisatorischer Kapazitäten als die Fähigkeit zur Integration von Agenten und Ereignissen, prozessemulative Rekursion und statt Kulturtechniken „zivilisatorische Performanzen“ (= Kulturtechniken + Kumulation + Koevolution), dann gelangt man zu den Verbindungslinien zwischen den Etappen, die Schemmel aufgrund des methodologischen Fokussierens auf die Rekonstruktion der innerwissenschaftlichen Entwicklung nicht detektieren kann. Dann wird deren kumulativ-hierarchisches Verhältnis zueinander ersichtlich. Statistisch betrachtet stellt es sich so dar: Schemmels Theorieteil beträgt ca. 30 Seiten, der Theorieteil von GRI beträgt ca. 450 Seiten – dieser 15-mal größere Anteil der Bezugnahme auf abstrakte Entwicklungsprinzipien und -mechanismen ermöglicht es, umgreifendere makrohistorische Verlaufsmuster freizustellen und resultiert schließlich darin, die im Diagramm zusätzlich eingezogenen dünnen Linien zwischen den Phasen erkennen, begründen und begreifen zu können.

Dies wäre ein möglicher logischer nächster Erkenntnisschritt, zu dem Schemmels Studie anregt, auch um die von ihm in der Einleitung angekündigte, aber theorieprogrammatisch nicht einlösbare Logik der Entwicklung – gerade auch durch den geforderten materialistischen Bezug auf die Praxen – sichtbar zu machen. Dieser nächste Schritt ist in GRI also bereits mindestens skizziert.



GRI wurde wie erwähnt im Jahr des Erscheinens von Schemmels Studie als Dissertation eingereicht, so dass man sagen kann, dass beide Studien eine jener „multiplen Entdeckungen“ repräsentieren und als Symptom eines „Formzusammenhangs“ gelten können (hier des „aktiven Informationalismus“ und der Generativitätsphase, in der die generativen Bedingungen von Wirklichkeitskonstitution freigestellt werden; vgl. ebd. S. 643-646). So ergänzen sich beide Arbeiten bezüglich der konzeptuellen Synthese und historischen Detailarbeit gegenseitig.
Um abschließend die Parallelität weiter zu substanzialisieren: Dasselbe Schema offenbart auch die Mathematikgeschichte, neben der Raummodellierung ein weiterer Teilbereich der Sozialevolution und Zivilisationsgeschichte, worauf ich hier aber nur verweisen will durch Anfügung der beiden zusammenfassenden Darstellungen (ausführlich in „Anhang 4. Mathematikgeschichte als kumulative Folge von Rekursionsgraden diskreter Weltdifferenzierung“, ebd., S. 694-730; daraus Tab. 10 und Abb. 18 auf S. 728-730). Zweifellos muss Raumentwicklung, Mathematikentwicklung und Operationskettenvertiefung zusammengedacht werden. Dann wird sichtbar, dass Kontingenz sich innerhalb einer Matrix der Möglichkeiten abspielt, in Phasenräumen der Ereignisverwirklichung, und entsprechend keine Kontingenz mehr ist.

Epochen der Mathematikgeschichte entlang der Abstraktions- und Rekursionsgrade zivilisatorischer Kapazitäten (Löffler 2019, S. 728-729).
Differenzierung der Zahlenbereiche und Ontologie der Zahlen in den Rekursionsgraden zivilisatorischer Kapazitäten (Löffler 2019, S. 730).




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Randnotiz 6. Matteo Pasquinelli, The Eye of the Master. A Social History of Artificial Intelligence (2023)

Ebenfalls maßgeblich gestützt auf die „historische Epistemologie“, wie sie besonders am Max Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte entwickelt und kultiviert wurde (siehe obige Einträge zu Renn und Schemmel), rekonstruiert Matteo Pasquinelli in The Eye of the Master. A Social History of Artifical Intelligence (2023; Deutsch als Das Auge des Meisters. Eine Sozialgeschichte künstlicher Intelligenz, 2024) die Geschichte der künstlichen Intelligenz vor dem Hintergrund der Automatisierung von Arbeits- bzw. Arbeitsorganisationsprozessen in Folge der Industrialisierung und Elektrifizierung (Industriezeitalter und Informationszeitalter). Pasquinelli versteht seine Studie laut eigener Aussage als eine „Kopernikanische Revolution“ (so geäußert während eines Online-Workshops im Dezember 2021), doch würde man allein aufgrund dessen, dass sie sich weitgehend auf bereits bestehende, gar antiquierte Theorien stützt und nur einen kleinen Bereich in einem engen Geschichtszeitraum umfasst, eher von einer Intervention sprechen müssen. Und so tut es Pasquinelli dann auch im Buch: „A true critical intervention should challenge this hegemonic position of AI as the unique ‘master’ of collective intelligence.” (Pasquinelli 2023, S. 12). Es handelt sich also um eine kritische, zeit- oder zeitgeistgemäße Intervention, die das Sprechen über KI „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen sucht. Dies nämlich, indem nachgewiesen wird, dass Digitalisierung und KI nicht auf irgendeine magische Weise aus einer von der Welt, ihrer Materialität und ihren Konflikten losgelösten Kreativität des Menschen hervorgeht, wie es der Alltagsglaube oder ideologische Verblendung vorgibt zu denken. Vielmehr haben sie sehr handfeste Ursprünge, die Pasquinelli in der Mehrwertproduktion, Produktivitätssteigerung, also den Produktionsverhältnissen und so letztlich im Klassenkampf ausmacht. Er verfolgt dabei die These, dass eine „Dialektik“ bestehe zwischen den Arbeitsstrukturen und den epistemologischen Kulturtechniken, durch die Arbeitsstrukturen organisiert sind, darunter eben Algorithmen und KI. Dies lässt sich zunächst leicht begründen (vgl. ebd., S. 23 ff.), indem festgestellt wird, dass Algorithmen verstanden werden können als Programmsequenzen sich wiederholender Ausführungsschritte, deren Durchführung einen festgelegten Endzustand bewirken soll. Diese „Metatechnik“, wie man es nennen könnte, existierte tatsächlich schon immer, sofern sie jeglicher Organisation von Arbeit zugrunde liegt, sowohl auf der Ebene der konkreten Handlung (Hämmern, bis der Nagel fest in der Wand ist), als auch auf der höheren Ebene der Organisation und Kontrolle von Arbeitsteilung (so und so viele Arbeiter so und so koordiniert schaufeln lassen, bis der Bewässerungskanal fertig ist). Arbeits- und Sozialorganisation sind nicht trennbar von den der Produktion zugrundeliegenden Handlungsprogrammen und Koordinationsweisen, somit nicht von Algorithmen im allgemeinen Sinne. So versteht sich der von Engels übernommene Ausdruck „Eye of the Master“ im Titel des Buches: Algorithmen, hier der industriellen Produktion entstammend, repräsentieren nicht eine kontingente Technologie innerhalb einer Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur (Kapitalismus als Wirtschaftsform), sondern sind Ausdruck einer Struktur der Sozial- und Machtbeziehungen selbst (Kapitalismus als Gesellschaftsform). Nach Pasquinellis Dafürhalten sind sie darum gänzlich unmetaphorisch gesprochen als überwachendes, kontrollierendes und waltendes „Auge“ einer Herrscherklasse einzuordnen, also in ihrer heutigen Form und schon immer Ausdruck von Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen gewesen. Darum folgt hieraus: Algorithmen (verstanden als Organisationsmittel), Technologie und Machtstruktur korrespondieren miteinander. Und damit versucht Pasquinelli also nichts anders herauszuarbeiten als einen „Formzusammenhang“ (Pahl 2021, S. 5 ff., 2023; Löffler 2019, S. 376 Ziff. 10, S. 482 ff., S. 518 ff., S. 575 ff.) zwischen Technologie-, Produktions- und Gesellschaftsstruktur, hier anhand der Rekonstruktion der Entstehung von KI und algorithmischer Automatisierung im Rahmen von Produktions- und Managementprozessen und ihrer Verwurzelung in der industriellen Produktionsweise bzw. kapitalistischen Gesellschaft. Die Studie bietet viel technikhistorisches, wirtschaftshistorisches und ideengeschichtliches Material, anhand dessen sich das Konzept des Formzusammenhangs weiter stützen lässt. Zwar bleibt sie für sich genommen aufgrund der bedauerlichen Verengung auf den Teilbereich der Arbeitsentwicklung einseitig und aufgrund der zu begrenzten und teils antiquierten Theorie- und Konzeptgrundlage zu unterentwickelt, um substanzielle Einordnungen der Digitalisierung, KI oder Informationsgesellschaft in den Lauf der Sozialevolution zu ermöglichen, geschweige denn die sogenannte „Digitale Revolution“ grundsätzlich oder vollumfänglich erfassen zu können. Dennoch stellt die Studie eine gute Einführung dar für alle, die mit historisch-genetischen, soziogenetischen und koevolutionären bzw. den hier verwendeten älteren ideologiekritischen, historisch-materialistischen Ansätzen nicht vertraut sind. Sie kann somit als Propädeutikum für die Erkenntnismöglichkeiten verstanden werden, welche auf Grundlage der aktuellen soziogenetischen und kulturevolutionären Epistemologie möglich sind und teils bereits vollzogen wurden. Und darum lohnt es sich, auf Pasquinellis Studie an dieser Stelle etwas vertiefter einzugehen. Dieser Eintrag bildet jedoch keine vollständige Rezension oder umfassende Darstellung und Beleuchtung aller inhaltlichen Details und Probleme von Pasquinellis sehr detailreicher Arbeit. Vielmehr geht es darum, beide Ansätze in groben Strichen in Verhältnis zu setzen, um die Korrespondenzen und Unterschiede der Erfassungskapazitäten beider Ansätze bzw. Paradigmen (Postoperaismus vs. Kulturevolutionstheorie) kenntlich zu machen und auch zu verdeutlichen, inwiefern die beiden Arbeiten als gegenseitige Ergänzungen zu lesen sind. Pasquinellis Studie kann, ähnlich wie die anderen hier besprochenen Ansätze, als fein aufgelöste Beleuchtung eines Einzelaspekts der makrohistorischen Prozesse der Kulturevolution betrachtet werden, der sich nahtlos, wenn auch nach einigen Korrekturen und Erweiterungen, in das Kapazitätenmodell einfügt.

Seinen Ansatz grenzt Pasquinelli von einem als „externalist …. techno-deterministic“ verstandenen historischen Materialismus ab, wie ihn Marx im Ausspruch „Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten“ auf den Punkt gebracht hat (Pasquinelli 2023, S. 239). Die Dialektik von Basis und Überbau wird jedoch beibehalten, wenn auch in umfassenderer Form. Hier eine Auflistung programmatischer Aussagen:

– „I have proposed an equally strong externalist hypothesis: that the design of information machines responded – even at the level of the logical forms of their algorithms – to the forms of social interaction at large.“ (ebd., S. 155).

– „In this book I argue, to the contrary, that the inner code of AI is constituted not by the imitation of biological intelligence but by the intelligence of labour and social relations.“ (ebd., S. 2).

– „The study of the role of knowledge, mental labour, and science in the nineteenth century is necessary, I contend, to understand the history of automation that prepared the rise of AI in the twentieth century. Under different rubrics, the two parts of the book deal with the same problem: the relation between the forms of technological innovation and social organisation.“ (ebd., S. 17).

– „This book is intended as an incursion into both the technical and social histories of AI, integrating these approaches into a sociotechnical history that may identify also the economic and political factors that influenced its inner logic.“ (ebd., S. 12).

–  „I argue here that algorithms, even the complex ones of AI and machine learning, have their genesis in social and material activities.“ (ebd., S. 27).

– „The labour theory of automation is an analytical principle for studying also the new ‘eye of the master’ which AI monopolies incarnate. However, precisely because of the emphasis on the labour process and social relations that constitute technical systems, it is also a synthetic and ‘sociogenic’ principle (…).“ (ebd., S. 252).

Hieran bereits werden die Unschärfen des Erkenntnishorizonts deutlich (dies leider symptomatisch für nicht wenige Stellen des Buches; s.u.), der in der Herausarbeitung eines „soziogenetischen“ Ursprungs der Digitalität liegt: Einmal ist es die „sociotechnical history“, dann die „societal forms at large“, dann „intelligence of labour and social relations“, dann „social organization“, dann „labour processes and social relations which constitute technical systems“. Dennoch ist die Ausgangsannahme und Stoßrichtung gut umrissen: Es geht darum, die Wechselwirkungen in der Genese von Automatisierung, technologischem Fortschritt, den Strukturen der Mehrwertproduktion und den gesellschaftlichen Verhältnissen herauszuarbeiten. Dadurch soll gezeigt werden, inwiefern KI und allgemein Digitalisierung Ausdruck sozialer Prozesse und Klassenkonflikte ist bzw. zumindest nicht ohne diese gedacht und rekonstruiert werden kann. Das verbindende Relais jedoch wird eingangs klar benannt: Vom Postoperaismus her kommend ist es die Arbeit im Allgemeinen, im Besonderen die Automatisierung von „manual labour“ und „mental labour“. Pasquinelli fasst sein Anliegen so zusammen:

„When industrial machines such as looms and lathes were invented, in fact, it was not thanks to the solitary genius of an engineer but through the imitation of the collective diagram of labour: by capturing the patterns of hand movements and tools, the subdued creativity of workers’ know-how, and turning them into mechanical artefacts. Following this theory of invention, which was already shared by Smith, Babbage, and Marx in the nineteenth century, this book argues that the most sophisticated ‘intelligent’ machines have also emerged by imitating the outline of the collective division of labour. In the course of this book, this theory of technological development is renamed the labour theory of automation, or labour theory of the machine, which I then extend to the study of contemporary AI and generalise into a labour theory of machine intelligence.“ (ebd., S. 6, Herv. i.O.).

In Summe präsentiert Pasquinelli also eine „labour theory of automation“, die darum jedoch nur nominell oder in sehr losem Sinne auch auf eine „social history of AI“ hinführt. Der Untertitel des Buches hätte deshalb korrekter, dann freilich weniger sensationalistisch und marktgängig, lauten müssen: „a post-operaist history of artifical intelligence“. Entsprechend beschränkt sich seine Rekonstruktion vor allem auf die Wechselwirkung von Industrieentwicklung, Wirtschafts- und Klassenstruktur in der Genese automatisierter Entscheidungs- und Steuerungsprozesse („Intelligenz“), geht auf andere Bereiche aber nicht explizit ein, etwa auf die diesen Entwicklungen zugrundeliegenden oder daraus hervorgehenden Kognitionsstrukturen, Medien, Institutionen. Gleichsam werden auch nur die Epochen Industriezeitalter und Informationszeitalter behandelt, so dass Verallgemeinerungen (nach Regeln, Gesetzmäßigkeiten) ebenfalls ausgeschlossen und somit keine begründeten Extrapolationen möglich sind. Die postoperaistische Linse liefert zwar aufschlussreiche Interpretationen dieser historischen Ausschnitte, doch sind sie auf Basis dieser Theorie nicht in umfassendere historisch-sozialevolutionäre Prozesse einzubetten. Anhand des Schaubilds des Realisierungskegels der maschinen-integrativen und prozess-integrativen Kapazitätsgrade lässt sich der Untersuchungsausschnitt innerhalb der historischen Phase sowie dessen Enge illustrieren.

Der Untersuchungsbereich von Matteo Pasquinelli, The Eye of the Master. A Social History of Artifical Intelligence, 2023, verortet in den kombinierten Realisierungskegeln der Neuzeit und Technologischen Zivilisation (Abb. modifiziert nach Löffler 2019, S. 603 f.).

Pasquinelli unternimmt also einen Zoom auf die von der Industrieentwicklung ausgehende Entstehung der automatisierten, mathematischen Erfassung von Arbeitsvorgängen, zunächst den mechanischen (Industriezeitalter), dann den daraus hervorgehenden informatorischen (Informationszeitalter). Die zugrunde gelegten Theorieressourcen wirken teils etwas zusammengewürfelt und es wird mitunter auf antiquierte Begriffe rekurriert. Statt etwa aktuelle Befunde zur Entstehung des Zahlenbegriffs der kognitiven Archäologie zu Rate zu ziehen, wird auf Cassirer (1923 !) verwiesen, der wiederum auf die These des Anthopologen Karl Bücher von 1896 (!) verweist, dass der Zahlenbegriff auf Arbeitsrhythmen zurückginge (vgl. ebd. S. 32), was heute absolut nicht mehr haltbar ist. Verwendet wird auch ein nicht weiter definierter Begriff einer „Dialektik“, statt etwa Koevolution und Kumulation, während weitere etablierte Entwicklungsprinzipien wie Exaptation und Emergenz gar nicht vorkommen. Zugleich schränkt die bewusst gesetzte methodologische wie kritisch-dogmatische Vorentscheidung, lediglich von der Arbeitsorganisation auszugehen und alle weiteren Faktoren auszublenden, den Allgemeinheits- und Verallgemeinerungsgrad sehr ein. So wird die für die Neuzeit charakteristische „Maschinisierung“ von Staaten zwar auch erwähnt, in deren Zuge parallel zur datentechnischen Formatierung von Arbeitsprozessen auch die gesellschaftlichen Einheiten zunehmend diskretisiert und statistisch erfasst wurden (Statistik geht etymologisch auf statisticum, „den Staat betreffend“, zurück). Für Pasquinelli jedoch wäre die Berücksichtigung dieses Bereichs und der Wechselwirkungen eine Geschichtsschreibung „from above“ (vgl. Pasquinelli 2023. S. 11 f.), d.h. dieses Phänomen soll nur ein Nebeneffekt des eigentlichen Vorgangs der Entstehung von Information und Digitalität sein, der eigentlich aus der Mehrwertproduktion und dem Klassenkampf im Schnitt- und Konkretisierungspunkt der Industrie und industriellen Ausbeutung stamme. Dies äußere sich in den Steigerungen der Produktion und Ausbeutung zunächst durch Automatisierung von „manual labour“ in der Industrialisierung und dann in der Automatisierung von „mental labour“ in der heutigen Algorithmisierung und Digitalisierung. Aufgrund dieser Einschränkung ist sowohl die Rekonstruktion der Geschichte der Digitalität, die Diagnose gegenwärtiger Entwicklungen als auch die Prognose bzw. der Ausblick auf Möglichkeiten kritischer Eingriffe einseitig und bruchstückhaft. Trotz der einsichtsreichen Sammlung historischer Daten (etwa in der Herleitung des „general intellect“ von Marx oder zur Bedeutung von Hayek für die Entwicklung der KI), bleibt der Genesegang des Informationszeitalters unvollständig skizziert. So erweist sich bspw. die Rekonstruktion der Entstehung der Kategorie „Information“ als unzureichend, weil zu sehr auf den reinen Arbeitsorganisationsvorgang bzw. die industrielle und elektronische Automatisierung desselben fokussiert wird und so keine allgemeine Einbettung in die Makrogeschichte der Medien- oder Kulturtechniken, der Abstraktion oder den Techniken des Sozialmanagements möglich ist, die eine genauere Verortung der hierin angelegten historischen Neuerung erlauben würde mittels der Abgrenzung von früheren Formen (siehe hierzu Löffler/Schlaudt 2024). Illustrieren lassen sich die konzeptuellen Unschärfen etwa daran, dass Pasquinelli bereits in James Watts „Governor“ von 1787 eine kybernetische Apparatur erkennt, da dieser in einer einfachen Feedbackschleife besteht (ebd., S. 124), dabei jedoch übergeht, dass dieser noch keine diskreten, codierten Informationsdaten verarbeitet, sondern eben analog funktioniert. Dieser zu vorschnelle Schluss verdeutlicht eine der Grenzen der Studie, in der öfters derartige Verkürzungen und selektive Argumentationen auftreten. Ebenfalls übergangen werden die aus früheren Entwicklungsschichten der Neuzeit stammenden mathematischen (auch innermathematischen!) und erkenntnistheoretischen Fortschritte, welche die späteren Formalisierungen von Informationserfassung und -verarbeitung („Intelligenz“) in Folge der produktionstechnischen Automatisierung von Handlungs- und Entscheidungsprozessen erst möglich machten (zur Mathematikgeschichte siehe etwa Löffler 2019, S. 698-712, S. 569 Ziff. 357; zur erkenntnistheoretischen Geschichte der Digitalisierung siehe Gramelsberger 2023, S. 23-109). Auch der Verweis auf die Beobachtung, dass die Wissenschaft öfters der Arbeitspraxis nachging (wann, wann nicht, welcher, welcher nicht?), ist offenkundig kein ausreichender Beleg für die These, dass alles Wissen aus Arbeitskontexten hervorginge (In this understanding, the speculative process starts with labour that invents tools and technologies which, subsequently, project new ontological dimensions and scientific fields (a canonical example is the invention of the steam engine that engendered the discipline of thermodynamics, rather than the other way around…)); Pasquinelli 2023, S. 39). Vom Ansatz her ist Pasquinellis Intuition hier richtig, doch ist es nicht die Arbeit, sondern die Komplexität der Operationsketten und Assemblagen in der Slot-Matrix, die eine Korrelation zur Wissens- und Kognitionsstruktur aufweist: Je nach Struktur und Komplexität der Operationsketten werden spezifische Regularitäten, Materialitäten und Phänomene freigestellt, darunter dann etwa später auch Gegenstände und Kategorien wie „Naturgesetz“, „Atome“ oder eben „Daten“, „Intelligenz“, „Information“, „Kybernetik“, „Selbstorganisation“.

Illustration der Freistellung von Phänomenen in Korrelation zur Operationskettenstruktur (nach Löffler 2019, S. 219)

Gegenüber Pasquinellis postoperaistischer „labor theory of automation“ hat das allgemeiner angelegte Operationsketten- und Kapazitätenmodell also den Vorteil, alle (historischen) Formen von Operationskettenstrukturen, d.h. Formen der Arbeitsteilung und Sozialorganisation (selbst vor der Bildung von Klassen, also vor „Augen von Meistern“ im strengen Sinne), inklusive der dafür notwendigen Medien, Kulturtechniken, Kognitionsstrukturen und Weltbilder, formal erfassen und sie dadurch miteinander in Verhältnis setzen zu können. Ferner lässt sich eine Koevolution von Operationsketten, Wissensstrukturen und Kognitionsstrukturen aufzeigen. Dadurch lässt sich bspw. der genaue Moment identifizieren, an dem „Daten“ und „Information“ als Kategorie entstehen, nämlich als Folge einer neuerlichen qualitativen Erweiterung von Operationsketten: Es ist die elektronische Kopplung „zusammengesetzter Maschinen“ mittels Übertragung und Speicherung maschinencodierter elektrischer Impulse, die um 1870 ansetzte. Dies geschah jedoch auch in Wechselwirkung mit Fortschritten in der Wissenschaft, speziell der Biologie und Physiologie (hier also bereits nicht mehr rein aus Arbeitsprozessen stammend!). Und hiernach erst, nach 1900, kam es zur Bildung der Begriffe Rückkopplung und System, in den 1920ern zum Begriff der Information und dann in den 1940ern zur Bildung erster kybernetischer Systeme (vgl. Löffler 2019, S. 559 ff.; Löffler 2018). Eine der Wurzeln des Informationszeitalters bzw. des Weltverhältnisses des „Informationalismus“ (vgl. ebd., S. 644 f.) liegt zwar zweifellos in der Automatisierung von körperlicher und geistiger Arbeit im Zuge der Industrialisierung und Elektrifizierung, wie Pasquinelli eindrücklich aufzeigt. Sie gehen darin aber nicht auf, da die Anwendung dieser Techniken (automatisierte Kulturtechniken der Erfassung, Berechnung und Entscheidung von mathematisierten Vorgängen) schon immer über den Bereich der Arbeitsorganisation hinausreichte und exaptiv verwendet und dann zu Emergenzen geführt hat, etwa in den Kommunikationstechnologien (Telegrafen), dem Gesellschaftsmanagement (Statistiken), der Wissenschaft und Medizin (Nervensysteme, die zwar zuerst nach dem Telegrafen modelliert wurden, aber dann die Form der Signalübertragung als Prinzip koevolutionär zur Entstehung des Begriffs System auf andere Bereiche ausgedehnt wurde, etwa in den frühen Modellen des Erbgutes oder von Zellprozessen). Der Ursprung des Informationszeitalters wird also vom Aspekt der Automatisierung von Arbeit (Handarbeit und Kopfarbeit) her sehr erhellend ausgeleuchtet, dabei aber zu karg erfasst, um vollumfänglich die Bedeutung, Bandbreite und Folgen einschätzen zu können. Die Möglichkeit daraus hervorgehender Emergenzen hat Pasquinelli überhaupt nicht im Blick (ein Prinzip, das erstaunlicherweise nicht benannt wird, wo sich letztlich alles darum dreht, ebenso wie Exaptation, die durchgehend die Digitalitätsentwicklung und -verbreitung auf vielen Ebenen bestimmt). Im obigen Schaubild zum Realisierungskegel ist dies indiziert dadurch, dass es aus Pasquinellis Rekonstruktion (die im Übrigen gerade an den Stand der KI von 2022 heranreicht und von diesem (Zwischen)Stand allgemeine Schlüsse auf die Zukunft und aktivistische Interventionen ableitet) nicht möglich ist zu extrapolieren, wie es mit der Digitalisierung weitergeht, d.h. in welche Bereiche sie eindringen und welche Folgen sie noch haben wird (markiert durch die Fragezeichen im Diagramm zum Realisierungskegel auf den drei Ebenen Weltbildform, Technologie/Wissenschaft, soziale Institutionen). Digitalisierung und KI ausschließlich als Ausdruck des kapitalistischen „eye of the master“ zu verstehen, blendet alle weiteren Bereiche aus, in denen sie zum Einsatz kommen können und werden, von neuartigen Finanzsystemen und Währungsmedien, zur Wissenschaft, Bildung, der Politik, dem planetaren Ökosphärenmanagement und auch hin zur Restrukturierung der Arbeitsverhältnisse (!) selbst. Diese Art der Verkürzung lässt sich mit einer Analogie verdeutlichen: Pasquinelli behandelt die Algorithmisierung so, als würde man den Ursprung und Nutzen der Kulturtechnik „Addition“ ausschließlich im Bereich von Arbeit ansiedeln, daraus erklären und auch alle späteren Folgen darauf zurückführen. Ein postoperaistisch verengter Blick auf die heutige historische Übergangsphase ist also unzureichend für eine Erfassung der Digitalität, der Digitalen Revolution und deren Folgen. Es bedarf der allgemeineren Einbettung in die kontinuierliche Erweiterung der Operationsketten und Kapazitätsgrade, um die Gegenwart erfassen und mögliche Entwicklungspfade extrapolieren zu können.

Pasquinellis Rekonstruktion dürfte den vielen, die mit der Idee einer Wechselwirkung von Technologie, Geist und Gesellschaft nicht vertraut sind, ein großer Augenöffner sein (diesen empfehle ich an dieser Stelle aber auch nochmals das Kapitel zur „Soziogenese“ von Denkstrukturen in Bammés Homo Occidentalis, „Kap. 4.4. Von der Psychogenese zur Soziogenese des ‚reinen‘ Denkens“; Bammé 2011, S. 344-357). Er weist darin tentativ auf den Formzusammenhang der kulturevolutionären Epochen hin, bringt den (heute unbrauchbaren) Ausdruck Dialektik als Chiffre für Koevolution und Kumulation in Anschlag, umreißt – allerdings ohne das Prinzip direkt zu benennen – die „apparative Hermeneutik“ (etwa: Gehirn als Computer, Wirtschaft als selbstorganisierender Informationsprozess; vgl. Löffler 2019, S. 676), oder gelangt über Damerows „reflexive Abstraktion“ zu einem Automatisierungsbegriff, der nur einen Verallgemeinerungsschritt vom Prinzip der „prozessemulativen Rekursion“ entfernt ist. Würde man die verwendeten Begriffe „updaten“ und ersetzen, bspw. Innovation mit Nischenkonstruktion, Klassenstruktur mit arbeitsteilige Slot-Matrix, Dialektik mit Koevolution, Kumulation und Emergenz, Automatisierung mit prozessemulative Rekursion, Kulturtechnik mit zivilisatorische Performanz und dann noch Konzepte wie OperationskettenAbstraktionsgradeIntegrationsebenen, FreistellungWeltdifferenzierung oder Rendering/Resolution hinzunehmen, würde sich zeigen, dass Pasquinellis Studie einen kleinen Ausschnitt der Möglichkeiten kulturevolutionärer Aufklärung repräsentiert, die etwa auf Basis des Kapazitätenmodells bereits viel weiter getrieben werden konnte (siehe etwa Pahl 2021 zur Koevolution von Kulturtechniken, Wirtschafts-, Medien-, Kognitions- und Sozialstrukturen in Mesopotamien und Griechenland). Dann würde auch sichtbar werden, dass und wie das von ihm umrissene sozialevolutionäre Puzzlestück „Automatisierung von körperlicher und geistiger Arbeit nach 1750“ sich nahtlos in die Entwicklungsepochen einfügt, die bis in die „deep history“ der Menschwerdung zurückreichen (siehe etwa Löffler/Schlaudt 2024). Dadurch gelangte man in das nächste Segment der Epistemologieevolution, in der die Matrizen der Koevolution und Generativitätsprozesse freigestellt sind – die „Generativitätsphase“ im „aktiven Informationalismus“ (siehe Tabelle unten). Und tatsächlich streift Pasquinelli am Ende des Buches noch den Generativitätsbegriff und reicht in eine Beschreibung des „aktiven Informationalismus“ hinein: „In conclusion, machine learning can be seen as the project to automate the very process of machine design and model making – which is to say, the automation of the labour theory of automation itself.“ (Pasquinelli 2023, S. 248; Herv. D.L.). Allerdings eben nur gestreift, denn im nächsten Satz wird genau diese generative Funktion der KI wieder auf „Arbeit“ zurückgebrochen und damit die Technologie wieder der Macht- und Klassenstruktur unterstellt, statt den neuen Phasenraum und die neue Generativitätsmatrix an sich in den Blick zu nehmen: „In this sense, machine learning and, specifically, large foundation models represent a new definition of the Universal Machine, for their capacity is not just to perform computational tasks but to imitate labour and collective behaviours at large.” (ebd.). Neue Technologien und Medien eröffnen die Möglichkeit und Notwendigkeit der Bildung neuartiger Sozialbeziehungen und Institutionen, und dieser sich öffnende Phasenraum kann entsprechend nicht durch Strukturen des vorherigen, emergentistisch und integrationshierarchisch niedrigeren erfasst werden: Kumulativ auseinander hervorgehende Komplexitätsstufen sind nicht aufeinander abbildbar. Hier also wird deutlich, weshalb die Interpretationsfolie Klassenkampf durch die der Nischenkonstruktion ersetzt werden muss: Der Übergang zur Automatisierung von Kreativität steht für die Erweiterung der Domestikationsfähigkeiten hinein in historisch neue Ereignisräume, innerhalb derer sich koevolutionär nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Sozialstrukturen ausbilden müssen. Daher ist die Projektion einsinniger Kausalitäten und monofaktorieller Erklärungsschemata, dazu mit Begründung in der Normativität eines vergangenen Zeitalters, wie es in Pasquinellis postoperaistisch-arbeitsdeterministischem Ansatz geschieht, überholt: Es ist nun vielmehr möglich, die Phasenräume möglicher Systemzustände und der darin sich realisierenden Phänomene – Technologien, politische Einheiten, Sozialformen, Denkstrukturen – auszuzeichnen. Diese werden auch ganz neue ethische Probleme und Fragen hervorbringen, die neue Zugangsarten verlangen. Pasquinellis Beitrag ist vor diesem Hintergrund also als ein Brückenwerk zu verstehen, das von folgenden Generationen kumulativ darauf aufbauend weitergeführt werden kann, was dann aber auch in der Kultur- und Sozialevolutionsforschung wird konvergieren müssen. Insgesamt stellt Pasquinellis Studie also eine an einem Teilbereich vollzogene parallele, „multiple Entdeckung“ des Formzusammenhangs dar, die zugleich auch sowohl in Inhalt als auch dem Erscheinen an sich eben exakt den gegenwärtigen Formzusammenhang belegt und greifbar macht. So bietet sie – sowohl inhaltlich als auch nach einer Metareflexion oder „Beobachtung 3. Ordnung” ihres Erscheinens im Jahr 2023 – einen der Einstiegspunkte zu einer materialistischen Geschichtsschreibung neuen Typs, d.h. einer kulturevolutionär und anthropologisch fundierten jenseits der dogmatisch gewordenen Programme des 19. und 20. Jahrhunderts.

Epistemologieevolutionäre Einordnung von Matteo Pasquinelli, The Eye of the Master. A Social History of Artifical Intelligence, 2023, als Ausdruck des Segments des Hybridenmaterialismus im Übergang zur Generativitätsphase im aktiven Informationalismus (Tabelle nach Löffler 2019, S. 647).

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Randnotiz 7. Gabriele Gramelsberger, Philosophie des Digitalen zur Einführung (2023)

Mittlerweile liegt ein breites Spektrum an Ansätzen zur Erfassung des Digitalen anhand der Rekonstruktion dessen Genesegangs vor, jeweils als disziplinspezifische Anschnitte und Ausleuchtungen einzelner Teilbereiche. Sie kreisen wie Fliegen um dasselbe Licht, umkreisen denselben Attraktor, wobei sich ihre Bahnen bisweilen kreuzen, etwa wenn sie sich auf dieselben Schlüsselereignisse beziehen oder sie laufen parallel, wenn dieselben Entwicklungen unter anderen Gesichtspunkten beschrieben werden. Im Zentrum steht – als Kern dieses Attraktors unserer Zeit – die Frage nach der Geschichte, Bedeutung und den Folgen der Automatisierung von Datenerfassung und Informationsverarbeitung, d.h. der Auslagerung von Geistesleistungen in das Medium materieller, elektronisch-diskreter Schaltungsapparate. Beispiele für die paradigmatische Bandbreite sind die oben besprochene „labor theory of automation“ von Matteo Pasquinelli, dessen operaistische Rekonstruktion von der industriellen Automatisierung von Arbeit, Arbeitskontrolle und Arbeitssteuerung ausgeht (Pasquinelli 2023; s.o.), Bammés soziogenetisch-kognitionshistorische Rekonstruktion der Koevolution von Kognitions-, Ökonomie- und Weltbildstrukturen hin zur Informationsgesellschaft (Bammé 2011), Armin Nassehis systemtheoretische Konturierung der Genese von Digitalität als Ausdruck der Selbstbeobachtung funktional differenzierter Gesellschaften (Nassehi, Muster, 2019), die Ableitung der Digitalität aus der Statistik und politisch-ökonomischen Verwaltung (Wiggins/Jones, How Data Happened, 2023) oder aus der Wissenschaftsgeschichte (Renn 2020; s.o.). Der kulturevolutionär orientierte, technikanthropologisch-abstraktionsgeschichtlich angelegte Kapazitätenansatz in Generative Realitäten I fällt natürlich auch darunter, worin mittels der Formalisierung der Strukturen von Operationsketten (Formen der Arbeitsteilung + Technologie + Medien + Kognition + Weltbild) die Digitalität und die Episteme des Informationalismus präzise in der Gesamtgeschichte des Menschen verortbar wird (als Folge der Kopplung zusammengesetzter Maschinen durch Elektrizität nach 1870, die einen neuen Grad der Operationskettenkomplexität darstellt und eine neue Tiefe der Nischenkonstruktion und eine höhere Integrationsstufe realisiert). Eine detaillierte Ausleuchtung eines weiteren wesentlichen, parallel (koevolutionär) sich entfaltenden Genesepfads des Digitalen legte jüngst auch die Wissenschaftsphilosophin Gabriele Gramelsberger vor, nämlich dem der neuzeitlichen Epistemologiegeschichte. Das Register, in dem diese Rekonstruktion spielt, ist also nicht die Arbeit, die Nischenkonstruktion oder Technologie, die Mediengeschichte, das Sozial- oder Wissensmanagement, sondern die Geschichte der philosophischen Ideen zur Formalisierungen von Strukturen der Erkenntnis, die grundlegend waren für die Externalisierung und Materialisierung geistiger Funktionen, besonderes die mit Descartes ansetzenden Entwicklungen in der Epistemologie, Logik und der damit verbundenen Kulturtechniken. Dieser spezifische Anschnitt lässt sich anhand der ungefähren Verortung im Realisierungskegel der Neuzeit und Technologischen Zivilisation veranschaulichen. Indem Gramelsberger die Epistemologiegeschichte der Digitalität in hohem Detailgrad ausleuchtet, liefert sie einen ganz wesentlichen Beitrag zur Aufklärung der gegenwärtigen historischen Zäsur, der für alle, die an dieser Schwelle forschen, zur Grundlagenliteratur wird gehören müssen.

Der Untersuchungsbereich von Gabriele Gramelsberger, Philosophie des Digitalen zur Einführung (2023), verortet in den kombinierten Realisierungskegeln der Neuzeit und Technologischen Zivilisation (Abb. modifiziert nach Löffler 2019, S. 603 f.).

Vor dem Hintergrund der kulturevolutionär-koevolutionären Perspektive des Kapazitätenansatzes sind mindestens zwei Befunde von Gramelsbergers Studie bedeutsam, dies insbesondere darum, weil sie Parallelentdeckungen sind.
Zum einen decken sich die von ihr im Bereich der Epistemologieentwicklung herausgearbeiteten Phasen (Stufen der Formalisierung und Automatisierung des „Geistes“ auf dem Weg zur KI) mit den zivilisatorischen Kumulationssegmenten innerhalb der Realisierungskegel der Neuzeit und Technologischen Zivilisation. Gerade, weil Gramelsberger anhand der Untersuchung eines Einzelbereichs ohne Anwendung jeglicher kulturevolutionärer Begriffe, Konzepte oder Prinzipien dieselben Schwellen identifizieren kann, die sich mit jenen übergeordneten der zivilisatorischen Kumulationssegmente und Abstraktionssequenzen decken, liefert ihre Studie – umso bedeutender, da unbeabsichtigt und aus ganz anderer Richtung kommend – einen weiteren Beleg für die Logik der kumulativen Abstraktion im Realisierungskegel, für dessen Entfaltung in diskreten Segmenten und somit auch für den Formzusammenhang, durch den alle Phänomenbereiche verbunden sind.
Zum anderen „entdeckt“, wie ich in diesem Beitrag kursorisch herausarbeiten möchte, Gramelsberger im epistemologischen Entwicklungsprozess das Entwicklungsprinzip der „prozessemulativen Rekursion“, das bei ihr als „Ersetzungsverhältnisse“ bezeichnet wird. Damit liefert ihre Untersuchung einen weiteren Beleg dafür, dass es sich bei diesem Prinzip um ein domänenübergreifendes, universales Entwicklungsmuster handelt – wiederum unbeabsichtigt und dem Buch nach ohne dessen Auftreten in anderen Geschichtsphasen und damit die tiefere Bedeutung zu erkennen.
Diese unabhängig voneinander vollzogenen „multiplen Entdeckungen“ selbst wiederum deuten darauf hin, dass der Kapazitätenansatz im ganzen Substanz hat. Ihre Parallelentdeckung zeigt an, dass das Kumulations- und Rekursionsprinzip Regularitäten bzw. Muster sind, die nur auf dem technisch-wissenschaftlichen Entwicklungsniveau des 21. Jahrhunderts erkannt werden konnten und damit ihre Freistellung selbst Ausdruck der „Technologischen Zivilisation“ ist – nicht nur die Behandlung des Gegenstands Digitalität oder die Art der Beschreibung, sondern die dabei (und dadurch) parallel und unabhängig voneinander entdeckten Muster sind das Kennzeichen dieser Zivilisationsphase, dem Zeitalter der Generativität, der Ausdruck der neuen Matrix der Ereignisverwirklichung.

Tatsächlich verhält es sich so, dass ich, wenn ich die Zeit dazu gehabt hätte oder die Mittel, andere damit zu beauftragen, speziell die Entwicklungen nach 1870 hin zur KI auf das Auftreten von „prozessemulativen Rekursionen“ abgesucht hätte, für deren Existenz es viele Hinweise gibt. Gabriele Gramelsberger hat mir diese Arbeit nun glücklicherweise bis einem bestimmten Grad abgenommen, denn mit ihrer Aufbereitung des Geschichtsmaterials liegt ein äußerst erudierter und nuancierter Einstiegspunkt hierzu vor. Es bedarf nur der Klärung einiger Begriffe und einige konzeptuelle Erweiterungen um zu zeigen, wie die Ansätze miteinander korrespondieren und ineinander aufgehen. So versteht sich dieser Eintrag als ein erster kursorischer Abgleich der beiden Ansätze. Um die Parallelen und Unterschiede genauer herauszupräparieren, muss insbesondere geklärt werden, wie es sich mit den „Ersetzungsverhältnissen“ verhält und inwiefern diese analog zur „prozessemulativen Rekursion“ sind. Einerseits weist Gramelsbergers Begriff einige Unschärfen auf, andererseits könnte es sich auch um eine präzisere Fassung des Konzepts der prozessemulativen Rekursion handeln, die wiederum eine Kritik oder Schärfung dieses Konzepts ermöglichen oder gegebenenfalls sogar zu einem neuen führen könnte, das über beide hinausgeht. Ein Abgleich verspricht also fruchtbare analytische und synthetische Einsichten für beide Ansätze hervorzubringen. Das gesamte Material ihrer Studie kann an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden, doch aus einigen Schlüsselstellen lassen sich Anhaltspunkte herausarbeiten, welche die Korrespondenzen aufzeigen. Darum ist dieser Eintrag eher lose strukturiert: Zunächst soll einleitend der Gegenstand und das Register von Gramelsbergers Studie konturiert werden (1.), worauf eine knappe Übersicht der Ergebnisse ihrer Rekonstruktion folgt (2.), um anschließend ihr Konzept der „Ersetzungsverhältnisse“ mit dem der „prozessemulativen Rekursion“ abzugleichen (3.), worin sich eine große Überraschung zeigt, um dann abschließend einen Ausblick auf einige Folgefragen und Einsichten zu geben, die aus diesem ersten Abgleich hervorgehen (4.).

1. Eingrenzung des Gegenstandsbereich und der Fragestellung von Gramelsbergers Studie

Der methodologisch scharf eingegrenzte Sichtwinkel, den Gramelsberger einnimmt, lässt sich gut illustrieren am Kontrast zu den soziogenetischen Programmen von Pasquinelli und Bammé (die beide stark von Sohn-Rethel angeregt sind). In Nachfolge der historischen Epistemologie des MPIWG, Sohn-Rethels materialistischer Epistemologie und des Operaismus plädiert Pasquinelli für eine dezidiert arbeitstheoretische Perspektive auf die Epistemologieentwicklung. Eine programmatische Aussage ist etwa folgende:

„Rather than on the ‚shoulders of giants‘, as the saying goes, it could be said that the early paradigms of mechanical thinking and late machine intelligence have been developed, in different times and ways, ‚on the shoulders’ of merchants, soldiers, commanders, bureaucrats, spies, industrialists, managers, and workers.”
(Pasquinelli 2023, 11).

Gleichlautend formulierte Bammé zur „soziogenetischen“ (Bammé 2011, S. 344 ff.) Genese des quantitativen Wissens aus praktischen Zusammenhängen:

„Die quantifizierende Wissenschaft entsteht in einem Prozess, im Rahmen dessen die persönliche Einheit von Kopf und Hand, letztere durch die an den handwerklichen Einzelproduzenten herantretenden neuen Ansprüche überfordert, einem andersartigen Verhältnis von geistiger und körperlicher Leistung Platz macht. Er stellt die Vorbedingung dar zur Schaffung und Meisterung von Produktivkräften gesellschaftlicher Potenz. (…) Der Bau der Stadtbefestigungen komplizierte sich durch die Erfindung des Schießpulvers und die Entwicklung von Feuerwaffen, wodurch Probleme der Ballistik und der Widerstandskraft der Mauern berücksichtigt werden mussten. Die Metallurgie sah sich mit neuartigen Aufgaben der Geschützgießerei konfrontiert. Die erweiterte See- und Hochseeschifffahrt stellte ebenso wie das Transportwesen zu Lande und der Bergbau Anforderungen von bislang ungekanntem Ausmaß. Diese vor allem auch qualitativ neuartigen Erfordernisse des gesellschaftlich erweiterten Daseins überschnitten sich mit solchen der bloßen Vervielfachung herkömmlicher Techniken zu gesteigertem Volumen. Insbesondere an diesen Überschneidungspunkten stellten sich elementare Probleme der Mechanik in einer allgemeinen Bedeutung.“
(Bammé 2011, S. 497).

„Das, was sich im Italien des Cinquecento abzuzeichnen beginnt, die tendenzielle Aufhebung der Trennung von Hand und Kopf, setzt sich in wesentlich dramatischeren Formen fort im England des 18. Jahrhunderts. Auch hier waren es vor allem Handwerker, Kaufleute und Techniker, die abseits von den in Scholastik erstarrten Universitäten die weitere Entwicklung vorantrieben. (…) Die Universitäten in Cambridge und Oxford spielten dabei zunächst keine Rolle.“
(Bammé 2011, S. 499).

Gramelsberger Ausgangspunkt und Material ist geradezu diametral Bammés und Pasquinellis materialistisch-soziogenetischer Perspektive entgegengesetzt: Sie hangelt sich exakt an den Arbeiten jener „giants“ entlang, deren Werke ganz im Sinne von Newtons Ausspruch aufeinander aufbauten. Natürlich sind die zäsurhaften Entdeckungen und Funde dieser Giganten, die jeweils eine Sperrklinke für die weitere Entwicklung bildeten, eingebettet in ein Geflecht aus Assemblagen, sozialen Rollen und kulturellen Relevanzstrukturen („merchants, soldiers, commanders…“) und somit koevolutionärer Ausdruck derselben (d.h. desselben generativen Milieus und der selben Abstraktionsstufe), allerdings bestehen auch eindeutig ausschließlich im innerwissenschaftlichen oder innerepistemologischen Bereich verlaufende Entwicklungslinien und, vor allem, exklusiv in diesem Feld gelagerte Durchbrüche ohne direkten externen Einfluss. Wenn auch das Milieu, aus dem bspw. die Royal Society hervorging, stark geprägt war von praktisch-technischem „tinkering“, so waren etwa Newtons naturphilosophische Forschungen doch ganz davon entfernt, soweit, dass er sich genötigt sah den Principia noch die Anmerkung anzufügen, dass seine Entdeckungen eventuell für den Schiffbau von Nutzen sein könnten, während die Differentialrechnung von Leibniz aus ganz anderer Richtung kommend und ohne Praxisbezug zeitgleich entwickelt wurde. Die wissenschaftliche Revolution entsteht zumindest in England sicher aus pragmatischen und technikstukturellen Gründen, allerdings folgten daraus auch innerwissenschaftliche Entwicklungen, die nicht direkt von externen Faktoren angetrieben sind. So waren es eben nicht die Massen an „merchants, soldiers, commanders…“, welche etwa Vietas symbolische Variablen, Gauß‘ Grundlegung der komplexen Zahlen oder Booles logische Algebra hervorgebracht haben, sondern Vieta, Gauß und Boole selbst (und wesentlicher Zusatz: dies oft parallel und unabhängig von zeitgleichen Vorstößen anderer, die allesamt auf die vorherigen innermathematischen Entwicklungen reagierten, nicht auf externe praktische Probleme, was auch dadurch belegt wird, dass es bisweilen Jahrhunderte dauerte, bis der praktische Nutzen ihrer Formeln und Entdeckungen erkannt wurde). Wenn auch also in vielen Fällen externe Ansprüche und Problemlagen (Seefahrt, mechanisierte Produktion, moderne Kriegsführung, Kapitalismus) den Anlass zur modernen Wissenschaft gaben, kann eine direkte Determination keinesfalls für alle Fortschritte und Weiterentwicklungen gelten, da diese eben oftmals getaktet waren durch innerwissenschaftliche und -epistemologische kumulative Prozesse und Problemlösungsfindungen. Ein „Formzusammenhang“ (siehe hierzu Löffler 2019, S. 482f., 518ff., 575ff.; Pahl 2023) besteht zweifellos, aber die Vorstellung einer einsinnigen und exklusiven Determination der Wissensproduktion durch die Praxis greift zu kurz. Darum ist festzuhalten, dass ebenso, wie aus einer technikevolutionären (nicht technikdeterministischen!) Perspektive gefragt werden muss, was überhaupt erst die Möglichkeit industriell formatierter Ausbeutungsverhältnisse im Zuge der Mehrwertproduktion und in deren Folge eine Steigerung derselben durch Automatisierung bedingte (neue Phasenräume an Beziehungsmöglichkeiten – etwa Kapitalist und Arbeiter – eröffnet durch kumulative oder exaptive Innovationen im technisch-materiellen Bereich), umgekehrt auch gefragt werden muss, welche Innovationen im Bereich epistemologischer Methoden, Kulturtechniken, Medien und der Bildung operativer Zeichen- und Regelstrukturen die Grundlage der Formalisierung und Automatisierung geistiger Leistungen stellten und schließlich die Digitalisierung auf konzeptueller Grundlage ermöglichten (darunter etwa Ideen wie „X für Unbekannte“ in Gleichungen, die „Zahl“ Null, „OR, NOT, NOR“ als formalisiert-mechanische logische Operatoren). Ein rein arbeitshistorischer Ansatz greift entsprechend zu kurz, denn koevolutionär gesprochen ist nicht nur die Basis, sondern auch der Überbau in den Blick zu nehmen. Ohne die epistemologisch-kulturtechnischen Mittel, die der Formalisierung und Automatisierung von Wahrnehmung, Entscheidung und Steuerung zugrundeliegen und neue Räume für die Gestaltung von Applikationen in der Praxis erst eröffnen, lässt sich die Genese des Digitalen nicht nachvollziehen. Und eben diese Genealogie der Epistemologie und der zeichenfundierten Operationalisierung von Datenerfassungs- und Verarbeitungsprozessen („Analyse“, „Erkenntnis“, „Intelligenz“, „Denken“) herauszuarbeiten, hat sich Gramelsberger zur Aufgabe gemacht, also die zu den Produktions- und Praxisstrukturen korrespondierende andere Seite der Entwicklung des Digitalen, nämlich dessen epistemo-medialen Grundlagen, konzeptuellen Architekturen und zeichenstrukturellen Infrastrukturen.

Um es hier aber auch gleich vorwegzunehmen: Die obige Gegenüberstellung der beiden Ansätze (Epistemologiegeschichte und Arbeitsgeschichte) weist zugleich auf eine Kritik hin, der sich beide hermeneutischen Zugänge gleichermaßen ausgesetzt sehen. An die Sichtfilter und Interpretationsschemata der jeweiligen fachlich-ontischen Paradigmen gebunden, stellen sie nur eine Seite oder einen Aspekt der Entwicklungen heraus, die „im Realen“ nicht getrennt gedacht werden können. Bei Pasquinelli wirkt sich diese Einseitigkeit und Einsinnigkeit beispielsweise so aus, dass seine monofaktoriell angelegte Rekonstruktion in wenig sinnhaften und praktikablen Ableitungen dessen mündet, wie KI (verstanden als Ausdruck von Ausbeutungsverhältnissen) zu verorten und was nun mit ihr bzw. ihr gegenüber zu tun sei. Er schlägt eine minutiöse Dekonstruktion jeglicher Digital- und KI-Anwendungen auf Ausbeutungsverhältnisse vor, bis hinunter auf die Programm- und Verschaltungsebene, wie es im Zuge des kritizistischen Zeitgeistes der späten 2010er Jahre bereits in einigen Aspekten versucht wurde (vgl. Pasquinelli 2023, S. 251 f.) – dies ist aber offensichtlich eine sinnlose Sisyphusaufgabe, einfach weil die KI-Entwicklungen in Quantität und Qualität stets schneller und vor allem im Umfang kolossaler sind und sein werden, als sie einzelne kritisch gesinnte Geisteswissenschaftler noch erfassen und einholen könnten (und die Labore, in denen die Technologien Jahre vor der Vermarktung entwickelt werden, dürfen sie ohnehin nicht betreten). Analog dazu werden sich jedoch auch aus der monofaktoriellen Rekonstruktion der Philosophiegeschichte des Digitalen und der KI heraus, wie Gramelsberger sie unternimmt, in der methodologisch eine Vielzahl an externen Faktoren in der Entstehung, Anwendung und Verbreitung ausgeblendet sind, d.h. ausgeblendet ist, worin sich die philosophischen Gedankengebilde (Formalisierungen, Kalkülisierungen, Ersetzungsverhältnisse) überhaupt konkretisieren können und wodurch ihnen „materielle“ Grenzen und Vorbahnungen gesetzt sind (materiell-technisch, institutionell, ökonomisch, normativ, kognitiv), ebenfalls keine sinnvollen Extrapolationen ableiten lassen, dies sowohl bezüglich weiterer Erkenntnis- und Forschungsinteressen wie auch der Folgen der Digitalität für die Konstitution von Subjekt, Gesellschaft und Welt. Es ist ja gerade das Wechselspiel von Produkt und Reflexion, das zu neuen Reflexionen und Produkten führt. Mit den angeführten Arbeiten liegen also nun hochdetaillierte Ausarbeitungen einzelner Bestandteile, Faktoren oder Puzzlestücke des koevolutionären Wechselspiels verschiedener Entwicklungsbereiche und -ebenen vor, jedoch müssen diese zusammengedacht und synthetisiert werden, um fruchtbare Aussagen über die Gegenwart zu treffen und Trajektorien hin zu zukünftigen Entwicklungen kenntlich zu machen. Dann erst wären substanzielle Erkundungen und Auslotungen der „Zukunft, die bereits da, nur ungleich verteilt ist“, möglich.

Gramelsberger ist sich der Notwendigkeit, eine solche umfassendere Perspektive einzunehmen, jedoch bewusst und bezieht diese im zweiten Teil ihrer Studie etwas mehr ein. Unter der Rubrik „Signatur des Digitalen“ soll nicht die formale „Struktur des Digitalen“ wie im ersten Teil, sondern die qualitative Erscheinung des Digitalen sowie die technologischen Bedingungsmöglichkeiten und die Art, wie es die Wirklichkeit durchdringt und durchtränkt, besonderes hinsichtlich der Lebenswelt und Subjektivität, konturiert werden. Hier geht sie jedoch maßgeblich vortastend und raumklärend vor, man möchte sagen konservativ, indem sie Digitalisierungsphänomene mit älteren kanonischen philosophischen Theoremen (etwa von Plessner, Michael Polanyi, Blumenberg) etikettiert, sie einzufangen und zu framen sucht, anstatt umgekehrt von diesen Phänomenen aus eine eigene Philosophie zu entwickeln. Dies wäre angebracht, da zum einen die Digitalisierung auch die Geschichte des Menschen rückblickend in ein anderes Licht stellt und somit zu einer Revision der tradierten Philosopheme aufruft (vgl. Löffler/Schlaudt 2024, Löffler 2019, S. 640 ff., 675 f.), und zum anderen, weil die heutigen und zukünftigen konkreten Anwendungen und Phänomene emergenztheoretisch und kumulationslogisch gesprochen notwendig über die Erfassungskapazitäten der kanonischen Paradigmen und Begriffe, die einer früheren Zeit und Entwicklungsschicht entstammen, hinausgewachsen sind, dies schlicht darum, weil durch die neuen Technologien bislang nicht entborgene Aspekte und Eigenschaften der Realität des Menschen, der Kognition und der Welt freigestellt werden (man denke etwa an die durch social media hervorgequollene Affektivität, die sich durch kommunikationshistorisch neuartige Feedbackstrukturen verfestigt hat zu einer eigenen Größe und hierdurch bspw. die Rationalität als Grundlage von Diskursen an vielen Orten verdrängt). Gleich dazu, wie man mit der Logik und Physik des Aristoteles die Gegenstände und Zusammenhänge der modernen Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kosmologie nicht erfassen kann, lassen sich die Digitalität und ihre Folgen nicht mit Konzepten erfassen, die eine vorherige Komplexitätsstruktur der Welt abzubilden trachteten (formal ausgedrückt: Digitalität und Informationalismus sind Ausdruck einer höheren Kardinalität der Ereignisverwirklichung, die mit kumulativ-integrativ niedrigeren nicht eingefasst werden kann; vgl. Löffler 2019, S. 328 ff.). Insgesamt wirkt der Ansatz also wie ein sehr fundierter erster Vorstoß zur Klärung des Feldes, der noch darauf angewiesen ist, stellenweise mit Platzhaltern zu arbeiten.

Der progressive Horizont von Gramelsbergers Studie jedenfalls besteht darin, zunächst anhand der Rekonstruktion der Digitalisierungsgeschichte entlang des Pfads ihrer epistemologisch-kulturtechnischen Entwicklung eine fundamentale Grundlage für eine „Philosophie des Digitalen“ zu erstellen. Hierdurch soll ein digitalitätsgeschichtlich-epistemologisch fundierter Zugang angeboten werden, der informativ sein kann für die Erforschung derzeit üblicher Fragen wie der nach der Ontologie des Digitalen, dessen Auswirkungen auf das Subjektverständnis, auf den Wahrheitsbegriff oder auf das „anthropologische“ Selbstverständnis des Menschen („anthropologisch“ hier in Anführungszeichen, weil Gramelsberger eben etwas behelfsmäßig wirkend nur auf das veraltete Konzept der exzentrischen Positionalität bzw. die drei Grundgesetze Plessners von 1928 rekurriert). Dabei stellt Gramelsberger eines besonders ins Zentrum: Es ist ein von ihr erkanntes Muster, das die Entwicklung hin zur Digitalität und KI durchgehend charakterisiert, nämlich die „Ersetzungsverhältnisse“. In der Analyse der Ersetzungsverhältnisse macht sie den grundlegenden Ansatzpunkt einer „Philosophie des Digitalen“ aus:

„Die Struktur analysiert die geistesgeschichtlichen und technologischen Bedingungen der Digitalisierung, insbesondere der Ersetzungsverhältnisse, die im Laufe der Entwicklung das Digitale erst möglich gemacht haben. Es sind die „Kunstgriffe“ der Ersetzungen von René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz bis heute, um Qualitatives in Formal-Quantitatives zu transformieren, die „die qualitative, lebensweltliche Seite der Digitalisierung“, also die Digitalität respektive Signatur des Digitalen prägen. In der Analyse dieser Transformationskette vom Qualitativen ins Formal-Quantitative und vom Formal-Quantitativen ins qualitativ Lebensweltliche liegt die wesentliche Aufgabe einer Philosophie des Digitalen. (…) Die Philosophie des Digitalen versteht sich als Kritik; als Digitalisierungskritik, die die Ersetzungsverhältnisse durch Analyse der Kunstgriffe in der Formalisierung und Quantifizierung des Qualitativen offenlegt wie auch die damit einhergehenden reduktiven wie erweiternden Effekte untersucht.“ (…)
Mit der Kritik der strukturellen Ersetzungsverhältnisse, der signifikanten Selbstverständlichkeiten sowie des semiotischen Übergangs von der Struktur zur Signatur ist ein Forschungsprogramm einer Philosophie des Digitalen skizziert.“
(Gramelsberger 2023, 225 f.; Herv. i. O.).

Soviel in aller Kürze zur Kontur der Fragestellung, des Gegenstands und des Erkenntnisinteresses in Gramelsbergers Studie.

2. Ergebnisse der Rekonstruktion des epistemologisch-philosophischen Geneseverlaufs der Digitaltät

Was nun mit „Ersetzungsverhältnisse“ gemeint ist, zeigt sich ganz ungezwungen und automatisch in der Rekonstruktion des Genesegangs des Digitalen, oder anders ausgedrückt: Sie sind geradezu dieser Genesegang. So setzt Gramelsberger ihre Rekonstruktion an bei dem „Programm der Operationalisierung des Geistes“ (Gramelsberger 2023,, S. 23 ff.), das sich nach einigen Vorläufern um die Wende zur Neuzeit (also im Ansatz der „maschinen-integrativen zivilisatorischen Kapazität“ ab 1200/1400) prominent und durchschlagend mit Descartes Rationalismus ab 1630 Bahn gebrochen hat. Descartes und später die Empiristen verfolgten die Idee, „geistige“ Fähigkeiten wie das Vergleichen oder Ziehen von Schlüssen zu formalisieren, sie quasi mechanisierbar zu machen und dann automatisieren zu können, d.h. die Erkenntnis auf eine methodologische Basis zu stellen und auch Neuentdeckungen durch systematisches Forschen, d.h. systematisches Produzieren von Erkenntnissen, zu ermöglichen (dies im offensichtlichen Gegensatz zu den Erkenntnisinteressen und -möglichkeiten der Griechen, die stasis-orientiert das Absolute, nicht das Offen-Dynamische freizustellen suchten, somit Ausdruck des spezifisch neuzeitlichen, fortschrittsorientierten Weltverhältnisses, das im Gleichschritt mit der experimentellen empirischen Methode entstanden ist; vgl. Löffler 2019, S. 518-528, 539). „Ersetzt“ werden dabei die vormals analog oder kontingent, jedenfalls noch nicht vollständig systematisierten Praxen der Wissensfindung wie Zufalls-, Probier- oder Erfahrungswissen durch output-orientierte, quasi-mechanistische Analyse- und Synthese-Prozeduren. Man kann hier auch – analog zum Experiment, das sich gleichzeitig als Erkenntnismethode etablierte – von einer „Mechanisierung der Wissensproduktion“ sprechen (vgl. Löffler/Schlaudt 2024). Dieser Zug hin zur Mechanisierung von Erkenntnis, zur Automatisierung geistiger Leistungen beruht auf „Kunstgriffen“, wie es Gramelsberger bezeichnet, verstanden sowohl als „Tricks“, „Definitionskniffe“ oder künstliche Setzungen wie zugleich als Geniestreiche, die dann als „Ersetzungsverhältnisse“ erscheinen:

„Wenn hier öfter von ‚Kunstgriffen‘ die Rede war, dann meint dies sehr geschickte Ersetzungsverhältnisse der Art: „X als U“. Denken wird als Problemlösen definiert, Problemlösen als Analyse/Synthese, Analyse/Synthese als (mathematische) Methode, (mathematische) Methode als folgerichtiges Denken, folgerichtiges Denken als sicheres und wahres Erkennen, sichere und wahres Erkennen als das Fällen identischer Urteile und dieses als wahrheitserhaltendes Ersetzen; wahrheitserhaltendes Ersetzen als Denken. Der Kunstgriff besteht darin zu behaupten, dass das eine gleichumfänglich dem anderen entspricht. Doch in jedem dieser Ersetzungsverhältnisse geht etwas durch Abstraktion verloren. Je mehr verloren geht, desto einfacher lässt sich Denken als simple Operationen definieren, formal explizieren und automatisieren.“
(Gramelsberger 2023, S. 44 f.; Herv. i.O.)

Auf das Problem, was genau es ist, das hier und an anderen historischen Schwellenpunkten jeweils „ersetzt“ (oder abstrahiert, formalisiert) wird, komme ich unten zu sprechen, denn hierin liegt die Problematik oder Unschärfe in Gramelsbergers Konzept sowie der Schlüssel zur Anbindung an die Kulturevolutionstheorie. Wichtig ist zunächst, Gramelsberger weiter darin zu folgen, dass derartige Ersetzungsverhältnisse den gesamten Weg hin zur Digitalität bestimmten. In ihrer Analyse erschließt sie weitere solche Etappen:

– „Formalisierung der Sprache“ (1850): Aussagenstrukturen werden von semantischen Inhalten losgelöst und auf ihre generativen Regeln formalisiert, was eine Kalkülisierung von Aussagen ermöglicht;
– „Elektrifizierung der Sprache“ (1920): Die Diskretisierung und Quantifizierung von sprachlich getätigten Aussagen in Verbindung mit ihrer Formalisierung ebnet den Weg zu ihrer datenmäßigen Erfassung und Speicherung, später folgen hieraus Computercodes zur automatisierten Input-Output-Verarbeitung;
– „Automatisierung des Geistes“ (1940): Denken wird als Problemlösen und Lernen definiert, das sich probabilistisch beschreiben lässt, was eine Materialisierung in der bis dato erfolgreichsten Architektur der Entscheidungsautomatisierung, den neuronalen Netzen bzw. dem machine learning, ermöglicht.

Die folgende Tabelle bietet eine knappe Übersicht über die Entwicklungssegmente im Kumulationsprozess hin zum Digitalen entlang der jeweiligen Ersetzungsverhältnisse (ausgelassen sind die mitlaufenden technologisch-medialen Innovationen, die als Anregung, Bedingung oder Ermöglichungsgrund das materielle Substrat der Übergänge bilden).

Programm / KumulationssegmentErsetzungsverhältnisse / prozessemulative Rekursion
(Dreischritt: Abstraktion, Externalisierung / Materialisierung, Emulation)
„Operationalisierung des Geistes“
ab 1630
–> Initialisierung: Rationalismus: Isolierung / Freistellung von Strukturen in Erkenntnisprozessen und Funktionen des Verstandes
„Richtiges“ Denken als Funktion, Formel, Algorithmus
Verstandesfunktionen: Vergleichen, Identität/Nicht-Identität, Auseinanderdividieren (Analyse), Zusammensetzen (Synthese)  
„Formalisierung der Sprache“
ab 1850
Formalisierung: Ablösung von semantischen Bedeutungen hin zu regelbasiertem Operieren mit Zeichen
Kalkülisierung: Geschlossenes, widerspruchsfreies System formaler Zeichenoperationen
Mechanisierung: bestimmte logische Zeichen
Abstraktion: jegliche logische Operation
Entscheidbarkeit, Delegierbarkeit  
„Elektrifizierung der Sprache“
ab 1920
Diskretisierung / Digitalisierung kontinuierlicher Signale
Quantisierung: Lautfolgen in Zahlenwerte übersetzbar
Information: Statistische Häufigkeit von Buchstaben/-kombinationen
Abstraktion der Verschaltungen: Coding, Compiler
Automatisierung von Routinen: Programme
Höhere Programmiersprachen  
„Automatisierung des Geistes“
ab 1940
Semantik: formalisiert als Grammatik: formalisiert als Logik
Intelligenz: Symbolverarbeitung, Lösungssuche
Verhalten: gesteuert über Feedback
Lernen: Gewichtung neuronaler Verbindungen
Biologisches neuronales Lernen: Probabilistik
Probabilistik: Neuronale Netzwerke
–> Resultat: Maschinelles Lernen  
Tab. 1 Von Gramelsberger identifizierte Etappen der Epistemologiegeschichte im Entstehungsgang des Digitalen.

3. Ersetzungsverhältnis und prozessemulative Rekursion

An dieser Zusammenstellung der Etappen ist klar zu erkennen, inwiefern Ersetzungen vorkommen, ja grundlegend waren für die Entwicklung des Digitalen. Allerdings ist nicht klar, ob es sich hierbei um „Kunstgriffe“ im Sinne von individuellen Einfällen und „Definitionstricks“ handelt, die aus künstlichen, willkürlichen Reduktionen von „Denken“ auf formale Strukturen bestehen („Setze einfach ‚X als U‘ und schaue, was passiert“), oder, und das ist der springende Punkt, ob die hier allgemein als „Denken“ oder „geistige Fähigkeiten“ gefassten Vermögen nicht von vorneherein bereits „technisierte“, „instrumentelle“ (um-zu) Denktechniken gewesen sind, die nun zum ersten Mal grundlegend isoliert und gezielt applizierbar gemacht werden („Will man Erkenntnis automatisieren, dann kann nur ‚X als U‘ gelten“). Handelt es sich also um kontingente Ideen gewitzter Leute, so dass diese Entwicklungsgeschichte auch einen anderen Pfad hätte nehmen können (wie Gramelsberger impliziert insinuiert) oder steckt hinter den „Kunstgriffen“ der „Ersetzungsverhältnisse“ doch noch mehr und anderes? Dies ist ein entscheidender Unterschied, dessen Klärung von größter Bedeutung ist: Handelte es sich um notwendig so verlaufende Abstraktionen und nicht um willkürliche Kunstgriffe, dann wären es prozessemulative Rekursionen und damit die jeweiligen Techniken universale „zivilisatorische Performanzen“ und somit nichts anderes als Ausdruck des kulturevolutionären Kumulationsprozesses und Konkretisierung der jeweiligen zivilisatorischen Matrix der Ereignisverwirklichung, hier der Laplace-Matrix und der Conway-Wolfram-Matrix. Im Folgenden zeige ich dies exemplarisch auf, zunächst detaillierter am ersten Schwellenpunkt der mit Descartes ansetzenden „Operationalisierung des Geistes“ (1630), daraufhin kursorisch an den folgenden Etappen (nach 1850).

Bei Descartes wird bereits deutlich, dass es sich um letzteres handelt, d.h. nicht um eine willkürliche Umdefinierung von Denken im Allgemeinen, sondern um die Systematisierung und Programmatisierung spezifisch strukturierten Denkens, also um spezifische Denktechniken, nämlich jener Denktechniken, die durch den Verstand angewendet zur Bestimmung von Wahrheiten, zu Erkenntnissen und zur Produktion von neuem Wissen führen. Es geht also nicht um den Verstand an sich, sondern um Verstandesleistungen, d.h. die zuschaltbaren, instrumentell einsetzbaren Komponenten geistiger Vorgänge. Den bei Gramelsberger angeführten Titeln seiner Werke ist es zu entnehmen: Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft (1628) und Von der Methode, des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung (1637). Und bei Descartes heißt es wörtlich auf der ersten Seite der Abhandlung über die Methode: „Denn es kommt nicht blos auf den gesunden Verstand, sondern wesentlich auch auf dessen gute Anwendung an.“ (Herv. D.L.) Descartes kann dabei gar nicht anders als so zu verfahren, dass er primär die Muster in Erkenntnisvorgängen, die vormals zufällig und unsystematisch vollzogen wurden (jedem Verstand prinzipiell verfügbar sind), beobachtet, isoliert und abstrahiert (was zugleich aber bereits von Vorläufern im Mittelalter und der frühen Neuzeit im Ansatz versucht wurde – er fängt also nicht ganz bei Null an, sondern baut kumulativ auf „on the shoulders of giants“, die im koevolutionären Wechselspiel mit der Entstehung des mechanistischen generativen Milieus stehen). Es ist also von vornherein nicht das Denken an sich, das ersetzt wird durch eine Reduktion auf formale Strukturen mittels der Isolierung und formalen Bestimmung seiner Bestandteile, sondern spezifisch das erkenntnisgenerierende Denken. Hierauf folgend, so Gramelsberger, „definierte er die Hauptfunktionen des Denkens als Analyse und gab vier Regeln an, wie eine solche Analyse methodisch durchzuführen sei“ (Gramelsberger 2023, S. 25). Also nochmals: Nicht „das Denken“ selbst, sondern von vorneherein das analytische Denken steht im Fokus. Es sind also die von ihm selektierten und isolierten Hauptfunktionen der analytischen Erkenntnisgewinnung des Verstandes, die freigestellt sind, während das Denken im Allgemeinen eben nicht ersetzt wird. Es ist somit eine Denktechnik, der Gebrauch der Vernunft, also die für erkenntnisgerichtete geistige Vorgänge konstitutiven instrumentellen Aspekte, die Descartes herausschält aus den Mustern früher beobachteter Erkenntnisprozesse. Hieraus leitet Descartes einen „Analysealgorithmus“ ab, d.h. isoliert die Prozedur dieser Denktechnik, der in Gramelsbergers Zusammenfassung dann so aussieht:

„1. Erkenne nur das als wahr an, was unbezweifelbar gewiss ist.
2. Um dahin zu gelangen, zerlege jedes Problem in Teilprobleme und Fragen, die mit Gewissheit beantwortet werden können.
3. Aus diesen Teilantworten baue das Wissen der Reihe nach auf; davon ausgehend, dass sich alle komplexen Fragen so analysieren lassen.
4. Schließlich, überprüfe alle Teilantworten daraufhin, ob sie vollständig sind.“
(Gramelsberger 2023, S. 25)

Descartes isoliert also die Verstandesfunktionen, die zu Erkenntnis führen, stellt sie als eigenständige Mechanismen frei, bindet sie zu elementaren Grundregeln ab und ordnet diese zu einer systematischen, geschlossenen Prozedur an. Die Anwendung dieser Prozedur soll universell gesicherte Erkenntnis gewährleisten und hervorbringen. Mit anderen Worten: Er baut aus den Bestandteilen und Einzelfunktionen, die vormals unsystematisch auftraten und lose verbunden waren, eine erkenntnisgenerierende Denkmaschine.
Und dies nun ist aus Sicht des kulturevolutionären Kapazitätenansatzes in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: a) zum einen steht dieser philosophische Zug in Analogie zur Struktur der „zusammengesetzten Maschine“, der empirischen Methode des Experiments sowie des mathematischen Koordinatensystems, die sich zur selben Zeit etablierten und konkretisiert so den „Formzusammenhang“ der „maschinen-integrativen zivilisatorischen Kapazität“ auf epistemologischer Ebene, b) zum anderen handelt es sich hierbei um ein „prozessemulative Rekursion“.

a) Analog zur Struktur der „zusammengesetzten Maschinen“, die aus zu einer Einheit gekoppelten, mechanisch hintereinander geschalteten „einfachen Maschinen“ zusammengefügt sind (vgl. Löffler 2019, S. 509 ff.), extrahiert Descartes die einzelnen Verstandesfunktionen bzw. Komponenten des analytisch-erkenntnisgenerativen Denkens und fügt sie zusammen zu einer geschlossenen, quasi-mechanistischen Einheit. Zur Veranschaulichung dieser Strukturanalogie („Formzusammenhang“) mag diese Illustration dienen.

Kopplung „einfacher Maschinen“ zu „zusammengesetzten Maschinen“ als qualitativ höherer Grad der Operationskettentiefe und Grundlage der Neuzeit als „maschinen-integrativer zivilisatorischer Kapazität“ (Präsentationsfolie aus dem Vortrag: D. Löffler, „Generativität, Informationalismus, Technologische Zivilisation. Beiträge neuerer Technikanthropologie und Zivilisationstheorie zur soziotechnischen Prognostik und Transformationsforschung“, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, Karlsruhe, 11.10.2021)

In Descartes „Erkenntnismaschine“ führen wie in der mechanischen Maschine und dem neuzeitlichen Experiment bestimmte Inputs zuverlässig zu bestimmten Outputs: ein Gebrauchsprodukt, ein Naturerkenntnisprodukt, ein Erkenntnisprodukt. Hierin drückt sich die „Mechanisierung der Wissensproduktion“ (Löffler/Schlaudt 2024) aus, wie sie auch im methodologischen Experiment augenscheinlich ist: Im Experiment wird eine Anordnung von Naturgegenständen isoliert und auf diskrete Regularitäten und Prozessmuster abgetastet, während in der Erkenntnismaschine ein Denkgegenstand oder Erkenntnisproblem isoliert, in eine quasi-mechanistische Anordnung eingespannt und durch das Ablaufenlassen der Analyseprozedur (die hintereinander geschalteten Funktionen des Verstandes) in das „Produkt“ einer Erkenntnis verwandelt wird. Die vormals losen und unverbunden Prinzipien (mechanische Elemente, Naturvorgänge, Verstandesfunktionen) werden also freigestellt, integriert und zu Komponenten eines geschlossenen Gebildes zusammengefügt, das nun auf einer höheren hierarchischen Integrationsebene angesiedelt ist. Wichtig und folgenreich ist hierbei, dass diese Art der „Maschinen“ beliebig konstituiert sein können und sich darum je nach Problem (Fragestellung, Kontext, Naturausschnitt, erwünschtes Produkt) umgestalten und flexibel anwenden lassen, d.h. also gerade auch neuartige Produkte und Erkenntnisse generieren können, je nachdem, worauf sie gerichtet sind, aus welchen Komponenten sie bestehen und wie diese angeordnet sind – sie sind eben durch die Elementekombinationen und -verschaltungen „programmierbare“ Input-Output-Gefüge. Aufgrund der kontinuierlichen Neuentdeckungen und deren Implementation in neue Gefüge sowie der offenen Möglichkeiten zur Kombination der Komponenten zu immer neuen Gefügen scheint sich auch der Raum der Entdeckungsmöglichkeiten infinitesimal zu erweitern (dies dann im Zusammenhang und gleichursprünglich mit den Konzepten ökonomisches Wachstum, technologischer Fortschritt und dem offenen linearen Zeitregime der Neuzeit; vgl. Löffler 2019, S. 539-556; Löffler 2018).

Descartes realisiert also, indem er die einzelnen Komponenten des Vorgangs der Erkenntnis zu Gegenständen isoliert und in einem Erkenntnisapparat zusammenfügt, auf epistemologischer Ebene nichts anderes als die „maschinen-integrative zivilisatorische Kapazität“ (vgl. Löffler 2019, S. 497 ff.). Gleich der zusammengesetzten Maschine, dem Experiment, sowie gleich dem zur selben Zeit entstandenen Koordinatensystem (das es erlaubt, beliebige geometrische Anordnungen formal zu bestimmen, in übergeordnete algebraische Strukturen zu integrieren und miteinander in Verhältnis zu setzen) stellt sich Descartes Grundlegung der systematischen Erkenntnismethode also als eine „zivilisatorische Performanz“ dar. Sie ist keine kontingente Kulturtechnik, sondern spezifischer Ausdruck der Zivilisationsphase der Neuzeit, der „maschinen-integrativen zivilisatorischen Kapazität“ und bildet mit den weiteren zeitgleich entstandenen zivilisatorischen Performanzen die epistemologische Plattform aller weiteren Entwicklungen, weit über die Digitalitätsgenese hinaus (vgl. Löffler 2019, S. 518-542).

Realisierungskegel der Neuzeit: evolutionärer Suchraum und Ereignismatrix der „maschinen-integrativen zivilisatorischen Kapazität“ (nach Löffler 2019, S. 603).

b) Und genau darum handelt es sich bei dem Vorgang der „Operationalisierung des Geistes“ (Gramelsberger) auch nicht lediglich um einen Akt des Ersetzens im Sinne einer willkürlichen, kontingenten Neudefinition des „Denkens“ als Reduktion auf die Analyse, sondern um eine „prozessemulative Rekursion“. Hier zunächst die Definition mit Beispielen aus GRI, denen ich unten ein Schaubild beifüge:

„[In der prozessemulativen Rekursion] werden Prozessformen abstrahiert, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst, materiell externalisiert und emuliert. Hierdurch entsteht zugleich eine hierarchisch höhere Integrationsebene von Operationseinheiten. Die prozessemulative Rekursion vollzieht sich also in einem Dreischritt: Abstraktion, Materialisierung/Externalisierung, Emulation.“
(Löffler 2019, S. 199; Herv. D.L.)

Verdeutlichen lässt sich das Muster anhand den kumulativen Entwicklungsstufen von Werkzeugen im Laufe der Technikevolution, in denen sich jeweils Komplexitätsstufen von Operationsketten und Abstraktionsgrade ausdrücken, also die Entwicklungsgrade „kultureller Kapazitäten“ (Haidle et al. 2015):

„- Der Pfeil-und-Bogen (komplementäre kulturelle Kapazität, Grad VII) enthält den Prozess des Jagens mit dem Speer (kompositäre kulturelle Kapazität, Grad VI): Die Armbewegung beim Speerwurf wird vom Bogen emuliert, wobei der Operator diese durch eine nicht-intuitive, erlernte Körperbewegung am Bogen gewissermaßen ‚einschaltet‘. Die gesamte vorherige Assemblage der niederen Kapazitätsstufe (Speerwurf) wird als abstrakter oder verbegrifflichter Vorgang in der Assemblage der höheren Stufe emuliert und in die höheren instrumentellen Zusammenhänge modulartig eingeführt (im Bogen, der den Pfeil ‚führt‘ und ‚wirft‘).
– Das Aufstellen von Fallen (ideelle kulturelle Kapazität, Grad VIII) wiederum enthält den abstrahierten Vorgang des Jagens, genauer des Anpirschens und des Erlegens aus der Deckung oder Entfernung mit dem Bogen als Abstraktion in sich (komplementäre kulturelle Kapazität, Grad VII). Hierfür ist die Antizipation des Verhaltens und der Wahrnehmungsgrenze von Beutetieren erforderlich, womit der gesamte Prozess des Jagens – die Eigenschaften des gesamten Gestells – in das Werkzeug hinein übersetzt wird: Die Falle emuliert als technisches Gerät die Präsenz des technischen Gefüges einer Jägergruppe.“
(Löffler 2019, S. 199 f.)

Prozessemulative Rekursion am Beispiel der Evolution von Fallenapparaten (Präsentationsfolie aus dem Vortrag: D. Löffler, „Neues Kulturdenken. Zu den Innovationspotentialen des Modells der Kulturellen Kapazitäten für die Kulturwissenschaften“, ROCEEH-Tagung, Heidelberg, 24.11.2017).

Gleich, wie etwa die Anwesenheit und das Wissen einer Jagdgruppe, d.h. einer Bogen-Jäger-Assemblage, im Fallenapparat abstrahiert, externalisiert/materialisiert und emuliert wird, so wird von Descartes der vormals analog, zufällig und unsystematisch ablaufende Prozess der Erkenntnis auf seine Grundfunktionen seziert, diese dann diskretisiert, abstrahiert, externalisiert/materialisiert und schließlich emuliert, hier mit dem Resultat der zur Regelanordnung abgebundenen „Erkenntnismaschine“. Und eben dieser Dreischritt bildet die Grundprinzipien der „prozessemulativen Rekursion“, und es ist erstaunlich genug, dass Gramelsberger diesen in nahezu exakt denselben Worten für „Ersetzungsverhältnisse“ beschreibt. In Generative Realitäten I heißt es:

„Die prozessemulative Rekursion vollzieht sich also in einem Dreischritt: Abstraktion, Materialisierung / Externalisierung, Emulation.“
(Löffler 2019, S. 199; Herv. D.L.).

„Der Vorgang der prozessemulativen Rekursion umfasst also den kulturevolutionären Dreischritt der Abstraktion, Materialisierung / Externalisierung und Emulation eines Prozesses. Er kann in allen Bereichen stattfinden, so beispielsweise die prozessemulative Wiedereinführung der Jägergruppe oder des Vorgangs der Jagd in die Materialität der Falle, die prozessemulative Wiedereinführung von analogen Mitteln der Bildung sozialer Beziehungen und affektiver Intensitäten wie in Lautäußerungen oder Gesten in die externalisierten Werkzeuge des cognitive engineering wie in Musikinstrumenten oder Malereien, die prozessemulative Wiedereinführung der münzwirtschaftlichen Interaktion im Kapital, die prozessemulative Wiedereinführung der oralen Kommunikation in der Schrift usw.“
(Löffler 2019, S. 242; Herv. D.L.).

Und nun bei Gramelsberger (hier schließlich die eingangs angekündigte Überraschung – man möchte sagen: „Halten Sie sich fest!“):

„Aus philosophischer Perspektive sind es die Prozesse der Externalisierung, Materialisierung, Formalisierung und damit Abstraktion menschlicher Fähigkeiten auf maschinenrationale Formate, die die maschinenlogische Struktur des Digitalen konstituieren.“
(Gramelsberger 2023, S. 19; Herv. D.L.).

Kurz: Offensichtlich erkennt Gramelsberger dasselbe Muster, denn die Grundprinzipien, mit denen sie die Ersetzungsverhältnisse charakterisiert, sind exakt dieselben Grundprinzipien, die der prozessemulativen Rekursion zugrunde liegen.
Hierin aber liegt auch die Unschärfe ihres Begriffs, welche die Krux des hier unternommenen Abgleichs der Konzepte ist: Es sind nicht allgemein „menschliche Fähigkeiten“, welche ersetzt werden im ersten Schritt der rationalistischen „Operationalisierung des Geistes“, sondern es werden die Funktionen freigestellt, die in grundsätzlich instrumentellen Denkprozeduren bestehen, die zu allgemeingültiger Erkenntnis führen. Es handelt sich also nicht um „menschliche Fähigkeiten“ (wenn auch Descartes diese selektive Verallgemeinerung durch Extraktion der regelhaften Muster in der Verstandestätigkeit vorgenommen haben mag), sondern vielmehr um kulturell erworbene und kulturell evolvierte Fähigkeiten, d.h. um kulturspezifische Denktechniken, die im Ersetzungsverhältnis freigestellt, konturiert und konkretisiert werden. Diese systematisierten Erkenntnisprozeduren treten erst in der Neuzeit auf, kumulativ aufbauend auf den epistemo-technischen und epistemo-medialen Errungenschaften der Griechen (logische Schlüsse, systematische Klassenbildung, Beweise) und der frühen Hochkulturen (kategoriale Listen, erste formalisierte Korrespondenzbeziehungen). Besonders leicht einzusehen ist dies daran, dass sich die epistemischen Techniken der Hochkulturen und Griechen (allgemeiner der Axialkulturen, darunter China und Indien) prozedural und kapazitär erheblich von den kulturellen epistemologischen Fähigkeiten unterscheiden, die in präliteralen und prämonetären Frühkulturen entwickelt sind (siehe etwa Hallpike 1990). So verstanden wird nun deutlich, dass es sich nicht lediglich um „Kunstgriffe“ handelt und die „Ersetzungsverhältnisse“ keine arbiträren Setzungen sind: Es sind Freistellungen bestimmter Muster und Regularitäten, die instrumentell strukturierte Erkenntnisprozesse der intentionalen, zielgerichteten Verstandestätigkeit charakterisieren, und deren Abbindung und Wiedereinführung in eine neuartige Apparatur bestehend aus verschalteten Erkenntnisprozeduren! Somit vollzieht Gramelsberger mit der Identifikation des Prinzips der „Ersetzungsverhältnisse“ eine Parallelentdeckung des Prinzips der „prozessemulativen Rekursion“, hier nun im Bereich der zivilisatorischen Performanzen epistemologischer Techniken. Allerdings ist sich Gramelsberger offenbar nicht bewusst, worauf sie gestoßen ist. Es ist nicht nur die „philosophische Perspektive“, d.h. die Analyse der Formatierungen von Begriffen der Erkenntnis im Entstehungsgang des Digitalen, unter der „Externalisierung, Materialisierung, Formalisierung und damit Abstraktion menschlicher Fähigkeiten“ als grundlegende Entwicklungsmuster in Erscheinung treten. Vielmehr handelt es sich hierbei um ein universales, kulturell-anthropologisches Prinzip in der Technik-, Medien- und Kulturevolution, um ein grundlegendes entwicklungslogisches Muster, das in der strukturellen Technizität des anthropos angelegt ist und dementsprechend in vielen weiteren Bereichen erscheint, in denen sich kulturelle Evolution ausdrückt (vgl. Löffler 2019, S. 320 ff.). Die Abstraktion eines vormalig etablierten Vorgangs auf die Funktion oder das Grundmuster, dessen Externalisierung und Materialisierung in einem Medium (Materie, Zeichen, Regeln) und die Emulation des Vorgangs in der neuen Einheit – und dies dann wieder vor vorne im nächsten kumulativen Iterationsschritt – repräsentieren ein allgemeines Entwicklungsmuster in der Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte. Gramelsbergers Studie zur Epistemologieentwicklung der Neuzeit liefert somit einen weiteren Beleg für das Prinzip der prozessemulativen Rekursion anhand eines Teilbereichs kultureller Evolution.

4. Die „Philosophie des Digitalen“ als Fortführung der Kulturevolution

Wer mit dem Kumulationsprinzip, den Begriffen Koevolution und Formzusammenhang, kulturelle und zivilisatorische Kapazität, prozessemulative Rekursion, Freistellung, resolution/rendering, generatives Milieu und Realisierungskegel vertraut ist, wird nur wenig überrascht darüber sein, dass hier eine weitere „multiple Entdeckung“ stattgefunden hat. Darum muss hier nicht weiter darauf eingegangen werden. Aber was bedeutet dies nun? Was lässt sich aus dem Nachweis, dass Gramelsbergers Entdeckung Ausdruck einer „multiplen Entdeckung“ ist, für die weiteren Überlegungen bezüglich der Digitalität, speziell ihres Versuchs, die Grundlegung einer „Philosophie des Digitalen“ zu erstellen, lernen? Was bietet das holistischer angelegte anthropologisch-kulturevolutionäre Kapazitätenmodell, was die philosophische Rekonstruktion der Digitalitätsgenese entlang des engeren Entwicklungspfades der Epistemologie nicht zu leisten vermag?

Versteht man die Ersetzungsverhältnisse als prozessemulative Rekursionen, dann sind diese sowohl als Entwicklungsprinzip an die Kulturevolutionsforschung anschließbar sowie auch in den jeweiligen Konkretisierungen in den Etappen hin zur Digitalität in die lange Geschichte der Technik-, Medien- und Kulturevolution einfügbar. Dann sind die von Gramelsberger präzise herausgearbeiteten Etappen Ausdruck von Kumulationsstufen im Prozess der kontinuierlichen Erweiterung von Operationsketten, der Abstraktion, der Erhöhung der Fähigkeit zur Integration von Ereignisräumen und Agenten in kulturelle Praxiszusammenhänge und auch der zunehmenden Differenzierung der Welt im Zuge ihrer immer feineren Auflösung in Muster und Regularitäten. Eben dies zeigt sich deutlich am Ersetzungsverhältnis in der Etappe „Formalisierung der Sprache“ (um 1850), in der wie in den vorherigen Ersetzungs- bzw. Abstraktionsetappen von der qualitativ-inhaltlichen Ebene abstrahiert wird: Sprachliche Aussagen werden desemantisiert und Sprache nun auf formale Regeln, zuerst der Grammatik, dann der Logik, heruntergebrochen (vgl. Gramelsberger 2023, S. 47 ff.). Verloren geht dabei etwa der traditionell-konventionelle semantische Konnotationsraum von Wörtern, hinzu kommt jedoch die Fähigkeit, jegliche Sprachen operativ einbinden zu können, da sie nun über die Freistellung ihrer generativen Regeln kommensurabilisiert sind. Dadurch erweitert sich die Fähigkeit zur Integration von Agenten und Ereignisräumen in Operationszusammenhänge, d.h. es entsteht eine neue zivilisatorische Kapazität. Dies vollzieht sich in der unmittelbaren Vorläuferphase vor der Kopplung von zusammengesetzten Maschinen durch Elektrizität und der Ausbildung der Strukturmathematik, in denen sich die neue, auf die Neuzeit folgende Kapazitätsstufe der „prozess-integrativen zivilisatorischen Kapazität“ der „Technologischen Zivilisation“ konkretisiert (um 1870, vgl. Löffler 2019, S. 559 ff.).

Qualitative Erweiterungen von Operationsketten hin zur Technologischen Zivilisation (Präsentationsfolie aus dem Vortrag: D. Löffler, „Generativität, Informationalismus, Technologische Zivilisation. Beiträge neuerer Technikanthropologie und Zivilisationstheorie zur soziotechnischen Prognostik und Transformationsforschung“, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse, Karlsruhe, 11.10.2021).

Im selben Kumulationssegment im Realisierungskegel, in dem die Etappe der „Elektrisierung der Sprache“ (1920; vgl. Gramelsberger 2023, S. 73 ff.)) stattfindet, bilden sich auch die Begriffe System und Information heraus, die es ermöglichen, jegliche autoaktive Entitäten zu beschreiben als Einheiten zusammengefügt aus informatorisch-energetisch vernetzten Funktionselementen und deren Zusammenspiel als funktionalisierte, codierte Kommunikation zu erfassen. Hierauf folgt kumulativ die Etappe oder Schwelle der „Automatisierung des Geistes“ (1940; vgl. Gramelsberger 2023, 93 ff.) mit der Entstehung der Kybernetik, in der die Regeln isoliert und operationalisiert sind, die der Wahrnehmung, der Interpretation, dem Lernen, der Entscheidung und dem Verhalten von Systemen (organischen und sonstigen) zugrunde liegen. Diese Durchbrüche führen zur Phase das „passiven Informationalismus“, welche die Epistemologie im Westen von 1940 bis ca. 2000 bestimmt hat.

Realisierungskegel der Technologischen Zivilisation: evolutionärer Suchraum und Ereignismatrix der „prozess-integrativen zivilisatorische Kapazität“ (nach Löffler 2019, S. 604).
Kumulationssegmente im „passiven Informationalismus“ und „aktiven Informationalismus“ (nach Löffler 2019, S. 647, Tab. 9).

Gramelsbergers Rekonstruktion der Etappen der Digitalität fügt sich also nicht nur nahtlos ein in die Kumulationssegmente zivilisatorischer Entwicklung, sondern sie belegt diese selbst anhand der hochdetaillierten Herausarbeitung der philosophisch-epsistemologischen Entwicklungen. Diese Parallelisierung erlaubt es, die „Philosophie des Digitalen“ auf eine andere Grundlage zu stellen, nämlich auf eine evolutionäre. Dann zeigt sich, dass das Digitale und KI nur die Fortsetzung des kontinuierlichen Prozesses der Ausweitung der Rasterung der Welt (oder Umwelt) ist, die bis in die deep history des Menschen zurückreicht und spätestens ab der Sesshaftwerdung zentral für die Organisation menschlicher Kulturen, d.h. für die interne und externe Naturdomestikation, ist:

„Immer mehr Dinge, Ereignisse und Vorgänge in der Wirklichkeit werden also in mathematisch-geometrischen Rastern einfassbar, die von der Gesellschaft aus auf die Welt projiziert werden. Diese Raster dienen der Koordination kollektiver Handlung in zunehmend komplexen sozialen Strukturen (Löffler 2019: 320ff). Komplexe Zivilisationen aller Art sind ohne diese Koordination von Handlungssequenzen und der hierfür notwendigen Mittel nicht zu denken. Und je komplexer Gesellschaften, ihre Technologien und Formen der Arbeitsteilung sind, desto mehr muss sich auch die zeitliche und räumliche Organisationstiefe des integrierenden Rasters ausweiten – und dies bis heute. (…)
Die mit den neolithischen Gesellschaften einsetzende Arbeitsteilung bedarf zur Steuerung und Koordination einer relativ exakten medialen Nachbildung von Ereignissen, Vorgängen und Kausalitäten in der Natur sowie auch der Gesellschaft. Die Mathematisierung dieser Modelle macht Wirklichkeiten berechenbar und ermöglicht es, Handlungen einzelner Akteure oder ganzer Kollektive zu planen und punktgenau zu setzen. Eine Rasterung der Welt in Datenpunkte, Polaritäten, Metriken, diskrete Skalen und abstrakte Koordinatensysteme nimmt hier ihren Anfang. Sie entsteht koevolutionär zur Notwendigkeit, Sequenzen von Handlungen und Kausalitäten miteinander zu koordinieren. Auch Digitalisierung und künstliche Intelligenz dienen nichts anderem: Phänomene in Symbole fassen (Datenerfassung), Vorgänge modellieren, Muster erkennen, Kausalitäten berechenbar machen, Diagnosen stellen, Prognosen treffen, und schließlich: Handlungen informieren.“
(Löffler/Schlaudt 2024)

Kulturevolutionäre Phasen und Zäsuren (v.u.Z.)Struktur der Wissensproduktion und Modellbildung  Medienformen und Kulturtechniken der Rasterung
Entwicklung visueller Kultur
(-130.00-40.000)
Entkörperung des WissensMedien: Symbole, Zeichen, Mengenmarkierungen  
Neolithische Revolution
(~ -8.000)
Modellierung des WissensKosmosmodelle (Kalenderarchitekturen), Anzahlmodelle (Zahlzeichen)
Hochkulturen / hierarchisch-imperiale Staaten / Bronzezeit
(~ -3000)
Verschriftlichung des Wissens  Schrift, formale Zahlensysteme, Operationszeichen, Formeln, Geometrie, kategoriale Listen  
Axialkulturen / Eisenzeit (Griechenland, China, Indien)
(~ -800)
Formalisierung des Wissens, Methodologisierung der Wissensproduktion  Alphanumerische Zeichen, Logik, Schlussregeln, Argument, Beweis, Universalienbestimmung  
Neuzeit / Maschinenkulturen (Europa)
(~ 1400)
Mathematisierung des Wissens, Mechanisierung der WissensproduktionEmpirisierung, Experiment, wissenschaftlich Methode, euklidisches Modellierungsraster, Quantifizierung, Geometrisierung, Buchdruck  
Globale, elektrifizierte Industrienationen
(~ 1940)
Automatisierung und Autonomisierung der WissensproduktionBit, automatisierte Datenverarbeitung, Mustererkennung und Modellbildung
Tab. 2 Etappen der Wissens- und Medienevolution und kumulative Stufen der Rasterungstechniken (nach Löffler/Schlaudt 2024)

Ein kleine Anmerkung noch. Indem Gramelsberger die Bedingungen der Entstehung des Digitalen und der KI auf epistemologischer Ebene herausgearbeitet hat und darin die Ersetzungsverhältnisse als reguläres Muster identifizierte, hat sie nichts anderes getan als die Muster der Weltwerdung selbst aufzuklären, hier in Form des Prinzips der Ersetzungsverhältnisse. Sie hat also eine Regularität in den Prozessen der Emergenz von Weltbeziehungen aufgezeigt, womit ihre Studie selbst Ausdruck des „aktiven Informationalismus“ ist und der „Generativitätsphase“ der Kulturevolution zugehört (siehe Tab. 9 oben).

Übergang von der mechanistischen zur informationalistischen und prozessualistischen Rasterung der Welt (Präsentationsfolie aus dem Vortrag: „Neues Kulturdenken. Zu den Innovationspotentialen des Modells der Kulturellen Kapazitäten für die Kulturwissenschaften.“ ROCEEH-Tagung, Heidelberg, 24.11.2017).

In Generative Realitäten I ist dies so gefasst:

„Mit der theoretischen Sichtbarmachung des Rekursionsprinzips [Ersetzungsverhältnis] als Tiefenstruktur der Weltverhältnisbildung bzw. als platonische Struktur der Generativität gerät eine neue Regularität und Objektivität in den Blick: Geschlossene und unterscheidbare Kontinuen epochen-, segment- und kapazitätsgradspezifischer Ereignisverwirklichung und Relationalität werden zum operationalisierbaren Gegenstand und Generativitätsprozesse zum neuen Beobachtungsgegenstand. Damit markiert die Freistellung des Rekursionsprinzips [der Ersetzungsverhältnisse] in der Menschheitsgeschichte zugleich eine neue Auflösungsstufe der Welt- und Selbstbeobachtung und eine Stufe der Integration von Ereignisräumen. Der neue Differenzierungsgrad der Welt wird zugleich zur Grundlage der auf ihn folgenden Differenzierungen und Realisierungen neuer Wirklichkeiten.“
(Löffler 2019, S. 641 f.).

Wenn die „Philosophie des Digitalen“ in der vorgeschlagenen Stoßrichtung, nämlich in Richtung einer „Kritik der Ersetzungsverhältnisse“ weiter voranschreitet, wenn also nicht nur ausgeleuchtet wird, was hinzugewonnen wurde im Prozess der „Automatisierung des Geistes“, sondern was während dieser Abstraktionsvorgänge „verloren“ ging (vgl. Gramelsberger 2023, S 45) – oder durch das Hinzugewonnene erst in die Sichtbarkeit oder Existenz rückt? – dann bereitet Gramelsberger gerade der weiteren Ausdehnung der Instrumentalisierung und Operationalisierung des Geistes den Boden: Einst philosophisch freigestellt, werden dann auch die scheinbar verlorenen, herausgeschnittenen oder eben bislang nicht entborgenen Strukturen und Phänomene des „Geistes“ begrifflich diskretisiert sein und damit zu einem regulären Gegenstand gerinnen. Sie wären durch die Vergegenständlichung in Operationsketten implementierbar, und zwar in eben die Operationsketten, die mediatisiert sind durch den Informationalismus und durch diskrete elektrische Schaltungen. Gramelsbergers Studie würde gerade durch diese Kritik, die zu einer Verbegrifflichung des bislang nicht Verbegrifflichten führt, die Grundlage für den nächsten Kumulationsschritt im Realisierungskegel bilden, für die nächste Auflösungsstufe der Weltdifferenzierung.

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Literatur

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2. Nach der Kontingenz: Zur Matrix des Werdens.
Kommentare und Ergänzungen zur
Rezension von Manfred Faßler, Soziologische Revue, 4.12.2020

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Es freute mich sehr, dass die in der Soziologie renommierte Zeitschrift Soziologische Revue eine Besprechung der interdisziplinären Studie Generative Realitäten I veranlasst hat, und besonders auch, dass diese Besprechung durch den Kultur- und Medienanthropologen Manfred Faßler unternommen wurde. Herr Faßler war einer der wenigen, die früh klar sahen, dass mit der Informationstechnologie – aufgrund der „Infogenität“ und „Technogenität“ des Menschen und der Kultur – eine nachmoderne Welt anbricht (siehe etwa Faßler, 1999; 2005; 2009; 2020a). Der Theorieentwurf in Generative Realitäten I ist als eine progressive Fortführung dieser Einsicht zu verstehen: Nachdem in den vorherigen Generationen der geschichtliche Bruch noch intuitiv bemerkt und begrifflich nur vortastend erfasst wurde, galt es nun, ihn genauer, d.h. anthropologisch-zivilisationsgeschichtlich exakt zu bestimmen. Es darf also nicht dabei verblieben werden, den Bruch nur zu bemerken, sondern es ist nun nach Möglichkeiten zu suchen, ihn umfassend zu begreifen, um hierdurch auch antizipieren zu können, welche konkreten Formen oder zumindest Rahmenbedingungen zukünftiger Sozialität und Zivilisation mit dieser Zäsur entstehen können (eben kumulativ auf den vorherigen Leistungen aufbauend, als nächster logischer Schritt). Hierdurch soll idealerweise der Übergang aus dem ersten Beobachten der Prozesse in ein Verstehen der Prozesse (und ggfls. schließlich in ein Lenken der Prozesse) ermöglicht werden. In anderen Worten: Dem derzeit existenziell notwendigen Transformationsdesign soll eine anthropologisch-zivilisationstheoretische Grundlage vorgelegt werden, um hierdurch hierdurch historisch, anthropologisch und kulturevolutionär informiert entscheiden zu können, welche transformativen Maßnahmen bzw. Richtungen überhaupt möglich und sinnvoll sind und welche nicht. Entsprechend erweist sich der Ansatz von Generative Realitäten I als die konsequente Fortführung dessen, was die vorherigen Generationen erarbeitet haben. Die Studie schließt theoriegeschichtlich an die Phase der Historischen Anthropologie, der Poststrukturalismen, der Medientheorie, der Medienanthropologie, der Systemtheorien, der Akteur-Netzwerk-Theorien, der Posthumanismen und Neuen Materialismen an (1980-2020; siehe Tab. 1 und 9 unten), unternimmt dabei jedoch den nächsten logischen Schritt. Dies jedoch nicht in „horizontaler“ Abgrenzung, indem es diesem Spektrum lediglich ein zusätzliches Paradigma beistellen würde, sondern indem es die Gesamtheit dieser Paradigmen synthetisiert und „vertikal“ darauf aufbaut und so progressiv über diese Phase hinausführt. Darum ist es eine glückliche Fügung, dass das Buch einem für diese Fragestellung sensibilisierten und in anthropologischer, soziologischer und mediengeschichtlicher Theorie äußerst versierten Kulturanthropologen, also Manfred Faßler, zur Bewertung vorgelegt wurde.
Im Folgenden möchte ich auf die Rezension von Herrn Faßler eingehen, indem ich die Befunde und die Stoßrichtung seiner initialen und vortastenden Auseinandersetzung mit der Studie etwas breiter zu kontextualisieren versuche. Hierdurch lassen sich die Möglichkeiten einer „Beobachtung 3. Ordnung“ illustrieren, die der Ansatz von Generative Realitäten I nun anbietet. Zum Schluss reiche ich noch einige Ergänzungen zu den Inhaltsangaben in der Rezension nach, die bedauerlicherweise an einigen entscheidenden Stellen die tatsächlich verhandelten Themen und Inhalte des Buches inadäquat und, so muss man leider sagen, zu oft auch schlicht falsch wiedergeben.

Nachtrag: Diese Replik auf Manfred Faßlers Rezension wurde im Dezember 2020 veröffentlicht, auch mit dem Ansinnen, hierin an frühere Diskussionen mit ihm anzuschließen und gemeinsam neue Fragehorizonte zu eröffnen. Doch dazu kam es leider nicht mehr, denn im April 2021 ist Manfred Faßler bedauerlicherweise ganz unerwartet verstorben. Mit Manfred Faßler verlieren die deutschsprachigen Geisteswissenschaften ihren wohl am längsten und nachdrücklichsten zur Behandlung des gegenwärtigen Transformationsprozesses drängenden Forscher (Manfred Faßler auf Wikipedia). Seine Hinweise nahm ich produktiv auf, sie orientieren auf vielerlei Ebenen meine weitere Arbeit. —

Das Kernanliegen des Buches – der erwähnte Nachweis der Möglichkeit einer neuen Zivilisationsform nach der Moderne mittels einer über die alten Wissensstände hinausgehenden neuen, integrativen Theorie – fand in der Rezension von Manfred Faßler erfreulicherweise zugleich seine Bestätigung und Würdigung. So führte die Lektüre von Generative Realitäten I bei Herrn Faßler seinem Bekunden nach zu einem fundamentalen Umdenken oder Neudenken, das jenem Umdenken und Neudenken gleichkommt, von dem mir bereits einige andere Gelehrte derselben Theorie- und Weltanschauungsgeneration nach ihrer Lektüre berichtet hatten.
Faßler formuliert dies in der Rezension so, dass er „als Leser wieder aufmerksam gegenüber der zielgerichteten Multilinearität der Entwicklung [ge]macht [wurde] – eben Linearität. Im ‚mountaineering effect‘, der Staffel- und Multifacettenevolution […] und der raschen Formulierung einer ‚Universalität von Entwicklungsniveaus‘, gewinnt diese (rückblickende) Zielhypothese wieder Gewicht.“ (Faßler 2020b, S. 581). Der Ansatz in Generative Realitäten I negiert zwar explizit und programmatisch das antiquierte Konzept einer auf ein „Ziel“ gerichteteten, teleologischen geschichtlichen Entwicklung (wie etwa jenes der aus heutiger Sicht sehr plumpen Fortschrittsideologie des 19. Jahrhunderts oder der in der Unterscheidung „Zivilisation vs. Wildheit“; ausführliche Kritik hieran in Löffler 2019, Kap. 2). Dennoch, nun vom Entwicklungsmythos der westlich-bürgerlichen Gesellschaft losgelöst, rehabilitiert der Ansatz das Konzept „Entwicklung“, dies jedoch auf einem neuen Abstraktionsniveau. Entwicklung wird durchaus als existent begriffen, zwar nicht als zielgerichtet, aber doch als „orientiert“ und „linear“, nämlich als kumulativer Lernprozess („Entwicklung hat eine Richtung, aber kein Ziel“ nach Mueller, 1982, S. 212). „Lineare“ Entwicklung bedeutet in Generative Realitäten I, dass Innovationen (und somit die Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte) nicht im luftleeren Raum oder „kontingent“ entstehen (oder irgendwie magisch oder chaotisch-zufällig sich realisieren könnten), sondern stets auf früheren Errungenschaften aufbauen (ganz schlicht: ein Lernprozess – wir lernten und lernen mehr über die Welt). Innovationen treten zwar, wie der Ausdruck schon besagt, unerwartet auf: Sie sind wie alles Neue eben „neu“. Dass sie ihrer Natur gemäß unerwartet auftreten, darf jedoch nicht zu dem Fehlschluss verleiten, dass sie beliebig auftreten könnten oder bedingungsfrei entstehen würden. Auch Innovationen (oder auch Exaptationen) stellen sich grundsätzlich unter bestimmten historisch gegebenen Einschränkungen und Möglichkeiten erst ein und setzen sich unter diesen erst fest. Emergenz und Innovation sind also nicht beliebig offen und kontingent, sondern realisieren sich in einem Phasenraum, d.h. einem Raum an Möglichkeiten, der von historisch-kulturellen Vorbedingungen und lokalen Faktoren bestimmt ist (auch der Zufall muss in etwas Wirkung haben, von etwas aufgenommen werden, etwas affizieren, denn anderenfalls würde das zufällige Ereignis verpuffen und hätte nie existiert, und eine emergente Struktur könnte sich nicht stabilisieren und dauerhaft werden).
Eben diesen Prozess der (vor-)bedingten Innovation bezeichnet der für die Studie zentrale Begriff der Kumulation bzw. der Ratchet-Effekt, Wagenheber-Effekt oder Sperrklinken-Effekt (vgl. Tomasello, 1990; Tennie et al. 2009; Henrich 2016; Haidle et al. 2015; Löffler 2019, Kap. 1.2, 3.6, 4.4, 5.4). Kumulation definierten Tennie et al. so: „Human cultural transmission is thus characterized by the so-called ‚ratchet effect‘, in which modifications and improvements stay in the population fairly readily (with relatively little loss or backward slippage) until further changes ratchet things up again.“ (Tennie et al. 2009, S. 2405). Das Kumulationsprinzip – Innovationen bauen aufeinander auf – begründet eine relative Linearität, eine relative Gerichtetheit der Geschichtsentwicklung. Geschichte wird als kumulativer Lernprozess begreifbar: Spätere Geschichtsphasen sind nur denkbar als Ergebnis des Durchlaufens früherer Geschichtsphasen, spätere Technik- oder Wissensinnovationen bauen notwendig auf früheren auf (etwa: ohne Rad kein Automobil oder Flugzeug, ohne Schrift kein Computer, ohne Elektrizität kein Computer etc.).
Die Einsicht in dieses absolute Prinzip menschlicher Weltentstehung steht im Kern der Studie Generative Realitäten I. Sie zeigt, dass und wie die Technologien der Gegenwart unter angebbaren Vorbedingungen entstanden sind. Dabei lässt sich die Folge der Entwicklungen dieser Vorbedingungen bis zum ersten Werkzeuggebrauch vor drei Millionen Jahren zurückführen, nämlich bis zur ersten Herstellung einfacher Steinwerkzeuge mit anderen einfachen Steinwerkzeugen (so verarbeitet die Studie den gesamten Zeitraum von der Hominisation bis zur Gegenwart, also die Zeit von vor 3 Mio. Jahren bis heute, und setzt nicht erst, wie in der Rezension angegeben, vor 200.000 Jahren an (vgl. Faßler 2020b, S. 575; detailliert hierzu unten); eben die menschlich-kulturelle Geschichte in diesem Buch als einheitlichen Prozess in den Blick genommen zu haben, trägt die von Faßler vermerkte „Wucht seiner Argumentation“ (Faßler 2020b, S. 575)). Der sekundäre Werkzeuggebrauch ist die „erste“ Innovation, die den Beginn der Gattung Homo und den Urknall des Anthropokosmos markiert. Diese evolutionäre Zäsur, diese neue Fähigkeit eines Organismus, steht am Anfang einer langen Kette weiterer Innovationen. Die kumulative Entwicklungsgeschichte, so der Clou der Studie, lässt sich mittels der Konzepte der „kulturellen Kapazität“ (Haidle et al. 2015) und der „zivilisatorischen Kapazität“ (Löffler 2019, Kap. 5) aufschlüsseln. Hierdurch können absolute Stufen in diesem Entwicklungsprozess identifiziert werden, also diskrete Grade der Domestikationsfähigkeit oder „Ebenen der Machbarkeit“ (Popitz) freigestellt werden (siehe hierzu unten in den „Ergänzungen zur Rezension“). Mittels der analytischen Konzepte der „kulturellen Kapazitäten“ und „zivilisatorischen Kapazitäten“ lässt sich dann auch die Geschichte aller gegenwärtigen Technologien (und damit einhergehend der technisch-kulturell vermittelten Weltverhältnisse und Kognitionstrukturen) „glatt“, d.h. konsistent und faktisch, bis zum Beginn der Menschheitsgeschichte zurückverfolgen. So ist bspw. der Algorithmus in diesem Sinne kein Phänomen des 20. oder gar 21. Jahrhunderts, sondern prinzipiell bereits in der Frühzeit des Menschen operativ bei der Herstellung von Werkzeugen zur Anwendung kam, wenn auch natürlich noch nicht in abstrakt-symbolischer Form freigestellt (dies ab den Hochkulturen vor 5000 Jahren) oder – darauf aufbauend – in die Materie ausgelagert (wie heute im Computerchip). Eben diese relative, kumulationslogische Linearität der Geschichtsentwicklung freigestellt und sie als kumulativen Lernprozesses formal beschrieben zu haben ermöglicht es einerseits, die Gegenwart exakt in der Matrix der Entwicklungsgrade der kulturellen Evolution und Zivilisationsgeschichte zu verorten, und andererseits darüber hinaus auch die Linie der Technik-, Kultur- und Geschichtsentwicklungen fortzuführen und in die Zukunft zu extrapolieren. Die anthropologische-kulturevolutionäre Neudefinition der linearen, nicht-teleologischen Entwicklung erlaubt also, die Stelle und Bedeutung der Phänomene der Gegenwart im diskret gestuften Geschichtsprozess exakt zu bestimmen und sie mit früheren solchen Übergängen und Zäsuren zu vergleichen.
Wenn gezeigt ist, worin das Wesen oder das Grundprinzip der Geschichte besteht (Kumulation und Rekursion), kann sich der Mensch in Distanz zur Geschichte stellen und sich vom „technologischen Unbewussten“ (Thrift 2005) emanzipieren, wodurch die Geschichte selbst ein Gestaltungsraum wird und das, was vormals als kontingent erschien, eingeschränkt wird und sich auf Faktoren hin reduzieren lässt, also diskretisiert und objektiviert wird. Diese Perspektive wurde im Buch als „Beobachtung 3. Ordnung“ oder „Generativer Prozessualismus“ eingeführt: Wird die Geschichte als regelhafter Prozess begriffen, wird es möglich, alle ihre Erscheinungen – inklusive der Phänomene der „Beobachtung 2. Ordnung“ (Theorien, Philosophien) – „von außen“ zu betrachten, da sie jeweils zivilisationslogisch auftretende Punkte im regelhaften Ablauf der Geschichte darstellen. Nach einer Phase des Kulturrelativismus, des Negierens von Entwicklung und des Kontingenzdenkens zeigt sich nun auf Basis des zwischenzeitlich erarbeiteten Wissens einer Vielzahl an Feldern und Disziplinen, dass der relativ-lineare, kumulative Entwicklungsbegriff unabdingbar ist für eine umfassende Beschreibung der Geschichte wie auch für eine umfassende Verortung der Gegenwart im Geschichtsprozess. Eben dieses Angebot einer neuen, nach-eurozentrischen und nach-relativistischen, anthropologisch-universalen Perspektive auf die Geschichte, die Technologie und den Menschen hat der Rezensent angenommen.

Es ist nun höchst bedeutsam, dass Manfred Faßler als Vertreter eines bestimmten kulturwissenschaftlichen Paradigmas und Weltbildes zu dieser Einsicht finden konnte. Man kann Herrn Faßlers ursprüngliche Theorieorientierung (wie eines jeden anderen auch) als Ausdruck einer Generation bzw. eines Segments im Realisierungskegel der gegenwärtigen Zivilisationsphase verstehen. Faßlers Ansätze und Fragen sind, wie man an seinen Werken wie auch an einigen Aussagen in der Rezension ablesen kann (etwa am Verweis auf die Memetik; Faßler 2020b, S. 580), eindeutig der „Fragmentarisierungsphase“ der Sozialevolutionsforschung bzw. der „Virtualitäts-Phase“ und „Hybriden-Phase“ der Sozial-, Medien- und Kulturwissenschaft des 20. und 21. Jahrhunderts zuzuordnen. Die beiden folgenden Tabellen aus Generative Realitäten I zählen die Merkmale dieser Phasen auf und veranschaulichen ihre Position im Laufe der kumulativen Entwicklung der Geistesgeschichte im Realisierungskegel der gegenwärtigen Zivilisationsphase. Es wird deutlich, dass auf die Phasen der „Fragmentarisierung“ und der „Virtualität“/„Hybridisierung“ notwendig – und darauf aufbauend! – weitere Phasen folgen müssen. Indem wir uns auf die Schulter dieser Giganten stellen, sehen wir weiter, doch ohne deren Schultern würden wir nichts sehen. Anders ausgedrückt: Wenn wir heute feiner differenzieren und integrieren können, so können wir das nur, weil wir auf den Differenzierungs- und Integrationsleistungen unserer Vorgänger aufbauen. Wir gehen also den nächsten Schritt. Hält man sich diesen Generationenunterschied (und dass es ihn gibt) vor Augen, liest sich die Rezension mit zusätzlichem Gewinn.

Tabelle 1. Paradigmenphasen der Kultur- und Sozialevolutionsforschung (aus: Löffler 2019, S. 141).

Tabelle 9. Passiver und aktiver Informationalismus (aus: Löffler 2019, S. 647).


Eine der zentralen Entdeckungen der Generation bzw. des Entwicklungssegments der Fragmentarisierungs- und Virtualitätsphase (1980-2020) ist das Prinzip der Koevolution. Geist, Technologie, Medien oder Kultur haben ihren Status als absolute Größen verloren. Unter dem Begriff des Systems konstituieren sie sich gegenseitig in einem dauernden Wechselspiel. Diese Entdeckung ist konsequenterweise begleitet und flankiert von der ontologisch-weltanschaulichen Folgerung der kontingenten Entwicklungsoffenheit und der „flat ontologies“: Wenn die Konstitution der Wirklichkeit (oder deren Sparten wie „Geist“, der Materiebegriff, die Kultur etc.) sich stets aus einem Zusammenspiel ontologisch unterschiedlicher, aber als gleichrangig verstandener Bereiche bzw. aus der Interaktion geschlossener, ontologisch disparater, prozessual aber als gleichrangig verstandener Systeme ergibt, so kann keinem der einzelnen beteiligten Bereiche oder Systeme mehr eine absolute Universalität oder das kausale Primat zugesprochen werden. Es gibt dann auch – eben typisch für das spätmodern-eurogene postmoderne und relativistische Denken – keine endgültigen Wahrheiten mehr, keine Essenzialismen, keine Universalien oder Universalismen. Darum wird auch die Vorstellung einer wie auch immer gearteten linearen Entwicklung hinfällig: Zum einen wird die Geschichte dann als in kultur- und systemrelative Prozesse zerfasert aufgefasst, zum anderen kann dann ein allgemeines, universales Entwicklungskriterium nicht mehr behauptet oder bestimmt werden. Geschichte und Entwicklung wird also als kontingent und offen aufgefasst, da keine übergeordnete Perspektive mehr einnehmbar ist, die etwa Entwicklungsstände absolut zu bestimmen erlauben würde (eine solche Bestimmung wäre ja nur der „Code“ der eigenen Kultur oder des eigenen Systems, der selbstreferenziell auf die Welt projiziert werden würde, wie uns die „Post-ismen“ des 20. Jahrhundert gelehrt haben). Die Wirklichkeit franst unter diesem geisteswissenschaftlichen Paradigma also aus in die zueinander relativen, „polykontexturalen“ (Gotthard Günther) Realitäten der disparaten, partikularen und selbstreferentiellen Systeme, für die es kein Außen und keine Objektivität mehr gibt. Aus dieser Weltanschauung (rückblickend eines Tages sicher auch eine Ideologie) ergibt sich dann die Ansicht, dass die Geschichte, die Technik- oder Medienentwicklung eine Art entwicklungsoffenes Wuchern darstellen würde, das jederzeit in jede Richtung abschwenken könne. Kurz: alles ist kontingent, alles könnte jederzeit anders sein. Diese Ansicht jedoch kann zu keiner ausreichenden Lösung führen, denn die Geschichte wie auch die gegenwärtige Menschheitslage einfach als kontingent zu erklären würde bedeuten, den Gegenstand selbst als kontingent zu erklären, womit er sich auflösen würde und keine Aussagen mehr darüber möglich wären. Es bliebe nur noch das selbstreferenzielle Kreisen in der Aussage: Alles ist kontingent, so auch diese Aussage. Auch ist eine kontingente Geschichte keine Geschichte mehr und auch die Gegenwart nicht mal eine Nach-Geschichte, denn dann dürfte es auch keine Vor-Geschichte mehr geben. Die offensichtlichen Aporien, die das Kontingenzdenken in sich trägt, führen jedoch nicht nur in eine epistemologische und ontologische Sackgasse, sondern auch in eine normative: Sollte alles kontingent sein und jeder Bezug auf die Welt zu einem zufälligen kulturellen Konstrukt erklärt werden, dann würde dies etwa auch für den Klimawandel oder seine Auslöser gelten müssen – eine mittlerweile existenziell höchst gefährliche Annahme. Kontingenz kann kein abschließender Befund sein (ein Befund, der im Übrigen verwandt mit dem Phantasma des „Endes der Geschichte“ und genauso obsolet ist). Dass nun tatsächlich viele Vertreter dieses Paradigmas bzw. dieser epochentypischen Weltanschauung wie Herr Faßler durch die Lektüre des Buches Generative Realitäten I an einen (relativ-)linearen Begriff der Geschichtsentwicklung zurückerinnert werden konnten, obwohl sie über Jahrzehnte hinweg die gegenteilige Position vertraten, kann als Beleg für die Plausibilität der Resultate und als Bestätigung der Innovationsleistung der Studie gedeutet werden.

Vermutlich vor allem deshalb, weil Herrn Faßlers Werk und Weltbild in der Phase des Kontingenzdenkens der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verwurzelt ist, enthält die Rezension eine deutliche Schlagseite in Richtung der Vorstellung einer „entwicklungsoffenen Koevolution“, die durchgehend betont wird – und für mich als Autor jedoch sehr überbetont wird, denn Koevolution ist nur eines neben drei anderen wesentlichen Entwicklungsprinzipien. Es geht in der Studie gerade nicht mehr darum, lediglich auf die koevolutionäre Entwicklungsoffenheit hinzuweisen, sondern darum, die Grenzen der Entwicklungsoffenheit aufzuzeigen, indem die Strukturen, Logiken und Bahnen von Entwicklung freigelegt werden. So nimmt Herr Faßler das Konzept der Kumulation, also die schrittweise und damit gerichtete, relativ-lineare Entwicklung, zwar wahr, doch müsste dieses Entwicklungsprinzip sehr viel stärker hervorgehoben und behandelt werden, denn es ist in Generative Realitäten I konzeptuell-theoretisch wie ontologisch-epistemologisch von gleichrangiger Bedeutung wie das Prinzip der Koevolution und bildet ein weiteres der vier axiomatischen Kernkonzepte des Ansatzes. Die Kumulation erweist sich als der eigentliche Schlüssel zur Geschichte. Nur durch dieses Konzept lässt sich rekonstruieren, was die Gegenwart aus kulturevolutionärer Perspektive ist, wie es zu ihr kam und wohin sie führt.
Das Prinzip der Koevolution ist also sozusagen „ein alter Hut“. Es wurde, wie oben beschrieben, bereits in der Fragmentarisierungsphase der Kultur- und Sozialevolutionsforschung (zwischen 1980 und 2000) entwickelt und verwendet, etwa in der Medientheorie von Vilém Flusser Ende der 1980er, in der Historischen Anthropologie bei Heinrich Popitz Mitte der 1990er, oder noch früher in der historisch-materialistischen Geschichtstheorie von Serge Moscovici von Anfang der 1980er, die Faßler eben auch in der Rezension als Referenz anführt (vgl. Faßler 2020b, S. 574). Ein „neuerer Hut“ hingegen ist nun das Prinzip der Kumulation. Die Synthese jedoch von Koevolution und Kumulation hat folgenschwere und weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Geschichte, Kultur und Mensch. Diese Synthese darf nicht übergangen werden, wenn über Generative Realitäten I gesprochen wird, denn darin besteht meinem Verständnis und Ansinnen nach das eigentliche Innovationspotential des Ansatzes.
Denn wenn etwa Geist und Technologie sich koevolutionär entwickeln, dann bedeutet dies, dass die Entwicklung der Technik auch die Entwicklung des Geistes bestimmen kann. Wenn sich aber die Technik kumulativ und relativ-linear entwickelt, dann muss auch der Geist, da er mit der Technik koevoluiert, sich mit ihr mitentwickeln! Wenn also Kumulation existiert, dann wirkt diese nicht nur in der Technikentwicklung, sondern auch in der Entwicklung von Strukturen des Geistes! Dann gilt es jedoch zu bestimmen, worin genau eine „Kumulation“ „des Geistes“ bestehen kann, oder, formaler ausgedrückt, was eine Kumulation kognitiver Fähigkeiten beinhaltet und was genau sie betrifft, was genau es ist, das sich darin oder daran kumulativ entwickelt (zu den Details siehe Löffler 2019, Kap. 4.2, 4.3, 5.2, 5.3). Wesentlich ist jedenfalls, dass sich die Strukturen des Geistes eben nicht beliebig oder kontingent ausbilden, sondern sie, sofern die Prinzipien Koevolution und Kumulation gelten, Entwicklungsprinzipien und Entwicklungslogiken unterliegen müssen. Dies ist der eigentliche Kern des Ansatzes, der im Buch durchgehend thematisiert und etwa im prominent verwendeten Begriff des „Formzusammenhangs“ verdichtet wurde (auf den Herr Faßler nicht eingeht): Es besteht ein „Formzusammenhang“ zwischen den jeweils ausgebildeten, an einem Punkt in der (Entwicklungs-)Geschichte existierenden Techniken, kulturellen Strukturen und Kognitionsformen. Auf Basis der Synthese von Koevolution und Kumulation, des Konzepts der „zivilisatorischen Kapazitäten“ als diskreten Graden der Abstraktion und des Begriffs des „Formzusammenhangs“ konnte etwa gezeigt werden, dass selbst die Mathematik sich keineswegs kontingent entwickelt, sondern stets als Ausdruck der kulturellen, technischen und medialen Komplexität der diskreten Stufen der Entwicklung erscheint und stets Teil eines „Formzusammenhangs“ ist (vgl. Löffler 2019, Anhang 4). In der Rezension stellt Herr Faßler diese Verbindung von Koevolution und Kumulation nicht her. Darin heißt es: „Die Entwicklungen, die Löffler überzeugend herausarbeitet, kann es nur im Geistigen, im Kognitiven geben. Im Materiellen ist alles determiniert.“ (Faßler 2020b, S. 578). Eben diese Trennung aufgehoben zu haben mittels der Synthese von Koevolution und Kumulation und dadurch gezeigt zu haben, dass die „Determination“ des „Materiellen“ über die Technik vermittelt auch zu einer Eingrenzung der Realisierungsmöglichkeiten des „Geistigen“ und „Kognitiven“ führt, ist die Kernaussage des Buches. Geist, Kultur und Technik entwickeln sich in abgegrenzten, eingrenzbaren, rekursiv-hierarchisch gestuften und somit diskret voneinander unterscheidbaren Phasenräumen. Sie entwickeln sich zwar nicht streng determiniert, jedoch auch nicht offen und kontingent, sondern prä-limitiert, also in Phasenräumen möglicher generativer Wechselwirkungen. Und hieraus ergibt sich dann auch das Ergebnis der Studie: Ein neuer solcher Phasenraum, der kumulativ und rekursiv auf dem vorherigen aufbaut, nämlich auf dem der Neuzeit, ist die Technologische Zivilisation.
Die Art, wie Welt dem Menschen geschichtlich jeweils erscheint, wie er sie sich jeweils erschließt, wie er sie jeweils konstruiert, ist nicht kontingent, sondern unterliegt constraints und folgt damit Entwicklungsbedingungen, Entwicklungsfaktoren und somit Entwicklungslogiken. Und genau diese Entwicklungslogiken und diskreten Strukturen im koevolutionären Entwicklungsprozess von Geist, Technik und Kultur freigelegt zu haben („Rekursionsgrade zivilisatorischer Kapazitäten“), ist das Resultat der Studie Generative Realitäten I. Jeweils evoluierte Weltverhältnisse und kulturelle Strukturen lassen sich nun „von der Seite“ her beschreiben, von einem Punkt von außerhalb der „inwendigen“ Weltbezüge, eben aufgrund der Repositionierung des Blicks zu einem Standpunkt, der von der Logik ihrer Entwicklung ausgehend ihre Konkretisierungen einbettet. Dieser kulturevolutionär und zivilisationstheoretisch begründete „archimedische Punkt“ (Löffler 2019, S. 54f, Zif. 173; S. 136) ermöglicht einen Blick von außen auf die jeweils ausgebildeten Weltinnenseiten, auf die Weltbezüge des Menschen, und begründet somit eine „Beobachtung 3. Ordnung“.

Koevolution und Kumulation stellen jedoch nur zwei der vier in der Studie zur Anwendung gebrachten axiomatischen Entwicklungsprinzipien. Die beiden anderen axiomatischen Prinzipien, die in der Rezension von Manfred Faßler vollständig ausgeblendet wurden, obwohl sie wesentlich für die gesamte Argumentation sind, sind die Konvergenz und die Rekursion. Sie sind ein essenzieller Teil des Werkes, denn durch deren Anwendung zeigt sich, dass die kumulativ geschichtete und koevolutionär voranschreitende historische Entwicklung als strukturiert, diskret und gestuft verstanden werden muss (und nicht als aleatorisch, graduell oder kontingent offen verlaufend). Sie erlauben, eine universale Erklärung evolutionärer, kulturevolutionärer und zivilisationsgeschichtlicher Entwicklung abzuleiten. Konvergenz bezeichnet die evolutionäre Entwicklung gleichartiger Fähigkeiten, Funktionen und Eigenschaften in unterschiedlichen Organismen oder Kulturen (für die Zivilisations- und Geistesgeschichte besonders bedeutend die „multiplen Entdeckungen“ in den Wissenschaften aller Kulturen oder etwa die voneinander unabhängig in verschiedenen Hochkulturen vollzogene Entwicklung zentraler Kulturtechniken wie Schrift, Bürokratie, Mathematik etc.). Rekursion bezeichnet den Entwicklungsmechanismus in der Evolution kulturell-instrumenteller Weltdomestikation, der im Dreischritt Abstraktion, Emulation und Externalisierung/Materialisierung eines funktionalen Interaktionsprozesses besteht: Muster von Interaktionsprozessen der Mensch-Technik-Assemblagen (etwa ein Speerwerfer) werden auf die Funktion abstrahiert, in Materie externalisiert und in einer neuen materiellen Anordnung (etwa Pfeil-und Bogen) prozessemulativ wiedereingeführt (Rekursion). Das Prinzip der Konvergenz legt die Phasenraumstruktur des Geschichtsprozesses frei, da es zeigt, dass unter gleichartigen zivilisatorischen Problemlagen gleichartige zivilisatorische Lösungen entstehen (und eben keine anderen); das Prinzip der Rekursion legt die diskrete Gestuftheit und Geschichtetheit des Geschichtsprozesses frei.
Eine detaillierte Erläuterung dieser beiden Prinzipien würde an dieser Stelle zu weit führen, darum verweise ich auf deren Einführung im Einleitungskapitel 1.2, sowie auf die im weiteren Verlauf der Studie vollzogenen detaillierteren Auslegungen in Kap. 2.6, 3.5, 4.2.4, 5.3.5, darüber hinaus auf den Nachweis ihrer Wirksamkeit im Geschichtsprozess anhand empirischer Phänomene der Zivilisationsgeschichte in Kap. 8.4-8.6, 9.3.4, 9.3.5. Den LeserIinnen der Rezension wie des Buches sei darum angeraten, das Kapitel 1.2 nicht zu übergehen, denn hierin wird der gesamte Satz aller für die Studie wesentlichen Entwicklungsprinzipien eingeführt, ohne deren Berücksichtigung weder der Ansatz noch die Resultate von Generative Realitäten I verstanden werden können.

Herr Faßler begrüßt in seiner kursorischen Exegese von Generative Realitäten I, dass die Studie über die Dogmen des Kulturalismus und Kulturrelativismus hinausführt (vgl. Faßler 2020b, S. 577), doch gibt es zugleich auch Stellen, an denen der Rezensent selbst wieder in genau diese zurückfällt. So heißt es zum Übergang von der Neuzeit in die Technologische Zivilisation: „Nimmt man an, dass diese kybernetische, datentechnologische Großstruktur eine Universal- und Querschnittstechnologie ist – was ich empirisch und theoretisch teile –, muss erklärt werden, wieso diese, trotz aller kulturellen Differenzen (inkl. methodischem Kulturrelativismus) sich haben durchsetzen können. Die Antwort auf diese implizierte Frage ist nur in Ansätzen zu finden.“ (Faßler 2020b, S. 579f.). Dass der Rezensent die Antwort auf diese Frage nur in Ansätzen vorfindet, irritiert mich als Autor sehr, denn das gesamte Buch zielt auf die Beantwortung dieser Frage! Die beiden Schlusskapitel, in denen die Rekonstruktion der Zivilisationsgeschichte als regelhaftem Prozess schließlich auf die Neuzeit und Technologische Zivilisation einschwenkt, erläutern dies auf gut 100 Seiten oder ca. 1/7 des gesamten Buches (Löffler 2019, Kap. 8.5, 8.6, S. 497-594). An dieser Stelle scheint Herr Faßler mit seinem Einwand wieder genau aus dem zivilisations-theoretischen Rahmen hinauszufallen, in den er sich eben noch hineingefunden hatte. Die „datentechnologische Großstruktur“ als „Universal- und Querschnittstechnologie“ identifiziert zu haben bedeutet, sie bereits unter dem Paradigma der anthropologisch-kulturevolutionären Zivilisationstheorie begriffen zu haben, die universale Zustände menschlich-kultureller Weltbeziehungen freilegt. Es geht eben gerade nicht mehr darum, Leistungen partikularer Kulturen herauszuarbeiten (unter den Entwicklungsprinzipien der Koevolution, Kumulation, Konvergenz und Rekursion zeigt sich etwa, dass der „westliche Sonderweg“ in der Technologieentwicklung kein absoluter Sonderweg ist, sondern ein relativer Entwicklungspfad, der vom Westen lediglich zuerst beschritten wurde, dies jedoch durchgehend auch auf den Leistungen früherer und anderer Kulturen aufbauend und unter vielen Innovationsdiffusionen, etwa der Null aus Indien, den arabischen Ziffern oder dem chinesischen Kompass und Schießpulver). Das Erklärungsprimat zu Entwicklungen in der Geschichte kann also nicht mehr in „Kulturen“ oder in Konflikte zwischen Kulturen gelegt werden (wie Faßler selbst noch als Gewinn der Studie vermerkt; vgl. Faßler 2020b, S. 577), die sich gegeneinander durchsetzen würden, sondern muss von der Frage ausgehen, welche universalen, kulturinvarianten Technologien wann und unter welchen Bedingungen freigestellt wurden. Es kommt also nicht darauf an, wer zuerst den Hammer oder den Streitwagen erfunden hat, sondern darauf, dass sie erfunden wurden, dass sie unabhängig voneinander erfunden wurden und dass sie sich – eben als universale oder kulturinvariante Kultur-/Techniken – verbreiten konnten. Geschichte ist aus der hier verfolgten zivilisationstheoretisch-anthropologischen Sicht ein Lernprozess und gerade nicht eine Abfolge von Kulturkonflikten und Dominanzverhältnissen (wenngleich diese natürlich in vielerlei Hinsicht die generativen Bedingungen stellen), da diese sich jeweils nur auf „Plateaus“ oder „Bühnen“ der zur Verfügung stehenden, also kumulativ entwickelten Technologien, Medien und Organisationsmittel abspielen können. Auf die Geschichte der Entwicklung dieser „Plateaus“, „Bühnen“, Möglichkeits- oder eben Phasenräume, innerhalb derer sich konkrete geschichtliche Ereignisse und „Szenen“ abspielen – oder allgemeiner: Realitäten sich konkretisieren – können, kommt es an, und hierauf weist Generative Realitäten I hin. Herrn Faßlers Einwand impliziert in der Übersetzung also die Frage, warum sich die westliche Kultur durchgesetzt habe. Das ist eine falsch gestellte Frage, denn nicht der Westen als Kultur, sondern der Westen als Ausdruck einer Technologiestruktur hat sich durchgesetzt, in anderen Worten: Eine Technologiestruktur hat sich durchgesetzt. Die „Universal- und Querschnittstechnologie“ des Digitalen ist wie der Hammer, der Streitwagen oder die Schrift eine universale und kulturinvariante Form der Weltbemächtigung und eben kein kontingentes Anhängsel einer spezifischen Kultur. Es ist also wichtig, nicht wieder in die kultur-theoretische und kulturalistische Perspektive zurückzufallen und den entscheidenden Unterschied der anthropologischen, zivilisations-theoretischen Perspektive anzuerkennen: dass alle Menschen als Menschen in dieselbe Welt gestellt sind und an derselben Welt lernen, mit ihr umzugehen, vor drei Millionen Jahren wie heute. Dies ist unter dem Strich die Lehre, die das Buch Generative Realitäten I den Menschen zur Bewältigung des 21. Jahrhunderts anbietet. Und hierin konvergiert mein Kommentar an seinem Ende dann auch wieder mit dem Schluss der Rezension von Manfred Faßler. Gleichklang ist keine Utopie. Gleichklang ist in Raum und Zeit verstreut und muss nur geborgen werden.


Ergänzungen zu den Inhaltsangaben

Herr Faßler bekundet, das Buch im Zuge der Rezension „unter ungeduldigem Lesen“ verarbeitet zu haben (Faßler 2020b, S. 578), was sehr verständlich ist angesichts des Umfangs von 784 Seiten und der Seitenbegrenzung einer Rezension. Hierdurch lassen sich sicher die Ausblendungen vieler wesentlicher Konzepte und Befunde sowie die paradigmatische Schlagseite erklären. Umso beeindruckender ist für mich, dass Herr Faßler trotzdem auch einige der weniger offensichtlichen zentralen Konzepte und Ideen mit einem äußerst geschärften Theorie-Auge erfasste und rekonstruieren konnte.
Das „ungeduldige Lesen“ führte offenbar jedoch auch dazu, dass einige Inhaltsangaben zu rasch vorgenommen wurden und so oftmals schlicht nicht zutreffend sind: Die Inhalte des Buches werden durch den Rezensenten falsch wiedergegeben. Um zu verhindern, dass interessierte LeserInnen hierdurch auf falsche Fährten geführt werden, ist es notwendig, diese falschen Angaben des Inhalts abschließend noch zu korrigieren und zu ergänzen. Berücksichtigt man diese Korrekturen und Ergänzungen, findet man in Manfred Faßlers Rezension einen interessanten und instruktiven Zugangspunkt zu Generative Realitäten I.

Im Folgenden füge ich einer Auswahl der besagten problematischen Stellen der Rezension die notwendigen Korrekturen an. Es handelt sich dabei nicht um Einwände gegen Herrn Faßlers Lesart von Argumenten des Buches oder Interpretationen des Ansatzes, sondern um die Richtigstellung der Wiedergabe der objektiv vorliegenden, d.h. im Buch explizit bearbeiteten Inhalte, Themen und Konzepte. Die Reihenfolge der Ergänzungen folgt dem Aufbau des Rezensionstexts.


1. „Im Zentrum steht der forschungsstarke Ansatz der Evolutionsbiologin Miriam Haidle, die die evolutionären Zustände menschlicher Selbstorganisation über den nach-genetischen Term der „kognitiven Kapazitäten“ entziffert. Ziel der vorliegenden Arbeit sind ‚Generative Realitäten I‘, die die Entwicklung des Homo sapiens bis heute beziffert: also die ersten 200.000 Jahre. Der Moment, ab dem es konzeptionell interessant wird, ist der Moment der kognitiven Revolution, in deren Verlauf Menschen lernten, verschiedenste Materialien (Holz, Steinscherben, Hornspitzen, Harz, Gras) zu Speeren und Pfeilen zu verbinden.“
(Faßler 2020b, S. 575)

Ergänzung
Die Studie beruht auf dem kognitionsarchäologischen Modell der „Erweiterungsgrade kultureller Kapazitäten“, entwickelt von der Paläoanthropologin, Hominisationsforscherin und Kulturevolutionstheoretikerin Miriam Haidle (zu Details siehe den Hauptartikel in Haidle, et al. 2015, oder die Zusammenfassung des Artikels in deutscher Sprache in Löffler 2019, Kap. 3). Das Modell zeigt anhand der Analyse archäologischer Artefakte (in erster Linie erhaltene Werkzeuge), dass die sogenannten Problem-Lösungs-Distanzen bzw. die Tiefen der Operationsketten, die die Herstellung und den Gebrauch von Werkzeugen charakterisieren, sich im Lauf der Kulturevolution kontinuierlich ausweiten. Durch diesen kognitionsarchäologischen Ansatz lassen sich in der Kulturevolution vier kumulativ aufeinander aufbauende Grade der Werkzeugkomplexität identifizieren, die sogenannten „kulturellen Kapazitäten“. Das Modell setzt an beim sekundären Werkzeuggebrauch, der vor 3 Millionen Jahren auftrat und eine wesentliche kognitive Revolution darstellt, und weist mit den drei folgenden „Graden kultureller Kapazitäten“ zugleich auch drei weitere „kognitive Revolutionen“ im Laufe der Hominisation aus, die sich an der diskreten Vertiefung der Operationsketten an den Werkzeugen ablesen lassen. Das Buch, das sich zentral auf das Modell von Haidle et al. bezieht, deckt somit die gesamte Zeitspanne von vor 3 Millionen Jahren bis heute ab.
Speere mit Knochen- oder Steinspitzen sind der „kompositären kulturellen Kapazität“ zugehörig, die dem gegenwärtigen Wissenstand nach vor etwa 300.000 Jahren ansetzt. Hiervon sind „Pfeile“ (wie in Pfeil und Bogen) zu unterscheiden, die einer späteren Kapazitätsstufe angehören, nämlich der „komplementären kulturellen Kapazität“, die vor etwa 100.000 Jahren ansetzt.
Entsprechend untersucht die Studie Generative Realitäten I Muster und Entwicklungslogiken in der Geschichte über den gesamten Zeitraum vom Beginn des sekundären Werkzeuggebrauchs vor 3 Millionen Jahren bis heute.
Es gibt in der Phase der Hominisation somit nicht eine kognitive Revolution, sondern dem Modell nach vier, wobei zwei davon größere Zäsuren bilden: der sekundäre Werkzeuggebrauch vor 3 Millionen Jahren initialisiert den Entwicklungspfad des Menschen; die „ideelle kulturelle Kapazität“ oder „notional cultural capacity“ vor etwa 40.000 Jahren, in der sich erstmals Exogramme (Donald) und Medien ausbilden, initialisiert die Zivilisationsgeschichte.


2. „Daraus ergeben sich die Grundlagen für Kap. 2, das sich mit den Übergängen aus der ökonomisch-technologischen Frühmoderne ab 1840 bis zur Fragmentierung und Neosynthese von Zivilisation befasst.“
(Faßler 2020b, S. 577)

Ergänzung
Das Kapitel 2 behandelt die Geschichte der Sozialevolutions- und Kulturevolutionsforschung. So lautet die Kapitelüberschrift: „2. Einfassungen des Weltenwandels im Weltenwandel. Zur Verlaufsgeschichte der Paradigmen in der Kultur- und Sozialevolutionstheorie“
Die in diesem Kapitel eingeführten Begriffe „Fragmentarisierungsphase“ oder „Neosynthetische Phase“ bezeichnen Paradigmenphasen der Sozialevolutionsforschung. Zusammenfassend findet sich am Ende des Kapitels eine tabellarische Übersicht über die Phasen und ihren Merkmalen (siehe oben; Löffler 2019, S. 141).


3. „Dem folgen ‚Schichten der Menschwerdung‘ (Kap. 3), Formalisierung der Noo- und Technogenese (Kap. 4) und umfangreiche Kapitel 5 – 8, die sich mit den Fragen der Entstehung und Festigung von Zivilisationsgeschichte, mit der Transformation von Kulturkapazitäten zu Zivilisationskapazitäten befassen.“
(Faßler 2020b, S. 577f.)

Ergänzung
Eine Übersicht über die Kapitelinhalte findet sich im Buch auf S. 59f, an dieser Stelle eine Kurzfassung:
Kap. 3. Schichten der Menschwerdung: Das Modell der Erweiterung kultureller Kapazitäten
Zusammenfassung des kognitionsarchäologischen „Modells der Erweiterung kultureller Kapazitäten“ nach Haidle et al.
Kap. 4. Zur Formalisierung der Noo- und Technogenese. Entwicklungsmuster und -prinzipien in der Erweiterungsfolge kultureller Kapazitäten
Formalisierung der kulturellen Evolution anhand des Kapazitätenmodells; Extraktion universaler Entwicklungsprinzipien aus seinen Befunden, Ableitung formaler universaler Kriterien für entwicklungsgeschichtliche Zäsuren.
Kap. 5. Zum Urgrund der Zivilisationsgeschichte: Von der kulturellen zur zivilisatorischen Kapazität
Konzeptualisierung des Übergangs von der Kulturevolution zur Zivilisationsgeschichte vor ca. 40.000 Jahren. Einführung des Begriffs „zivilisatorische Kapazitäten“, durch den sich die formalen Entwicklungsprinzipien, die aus dem Modell der „kulturellen Kapazitäten“ abgeleitet wurden, auf die spätere Zivilisationsgeschichte anwenden lassen.
Kap. 6. Die Stellung der Achsenzeit in der Menschheitsevolution
Einführung und Diskussion des Achsenzeitbegriffs von Jaspers und der Achsenzeitdebatte. Nachweis, dass die Achsenzeit keine kontingente Geschichtsphase ist, sondern als ein spezifisches Segment der Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte verstanden werden muss.
Kap. 7. Antikes Griechenland, Neuzeit und Technologische Zivilisation als Stufen der Bemächtigung von Welt. Arno Bammés Theorie axialer Zäsuren
Zusammenfassung der Theorie achsenzeitlicher Zäsuren von Arno Bammé (Bammé 2011). Nachweis, dass die von Bammé herausgearbeiteten späteren „achsenzeitlichen“ Zäsuren (Neuzeit, Technologische Zivilisation) genau wie die erste Achsenzeit nicht kontingente Erscheinungen sind, sondern als kumulativ logisch auftretende Segmente in der Kulturevolution und Zivilisationsgeschichte verstanden werden müssen.
Kap. 8. Zivilisationsgeschichte als Folge rekursiver Erweiterungsgrade zivilisatorischer Kapazitäten
Anwendung der formalen Kriterien für diskrete Entwicklungsgrade in der Zivilisationsgeschichte anhand des Konzepts der „rekursiven Erweiterungsgrade zivilisatorischer Kapazitäten“. Identifikation der frühen Hochkulturen, der Achsenzeit in Griechenland, der Neuzeit und der Technologischen Zivilisation als kumulativ und rekursiv aufeinander aufbauende Grade zivilisatorischer Kapazitäten. Im Ergebnis wird hier gezeigt, dass die auf die Neuzeit folgende Technologische Zivilisation eindeutig als eine qualitativ neue Epoche der Menschheitsgeschichte zu verstehen ist.
Kap. 9. Resümee: Durch die Früh- zur Spätgeschichte des Menschen
Zusammenfassung des Argumentationsgangs sowie Darstellung des Spektrums weiterer wissenschaftlicher und sozialer Felder, in denen der Ansatz und seine Befunde zur Anwendung kommen können.


4. „Kap. 9 formuliert ein ‚Resümee‘, das aber weitgehend neue Dimensionen zur ‚Zivilisationsgeschichte als regelhaften Prozess‘ diskutiert. Wissenschaftsgeschichte, speziell Physik und Mathematik nehmen darin einen breiten Raum ein. [a]
Dies zu Recht, methodisch, entwicklungsgeschichtlich, koevolutionär. Wobei gerade diese alte Familiengeschichte Philosophie und Mathematik durchaus im Aufbau des Textes früher hätte integriert werden können. [b]“
(Faßler 2020b, S. 578)

Ergänzung
a) Auf die Zusammenfassung des gesamten Argumentationsgangs in 9.1 und 9.2 folgt in 9.3. die Auffächerung des Spektrums möglicher weiterer Anwendungsfelder. Speziell Physik und Mathematik werden dabei in nur einem von insgesamt 16 Unterkapiteln behandelt. Die anderen Kapitel thematisieren folgende Bereiche: Ideen- Philosophie-, Theorie-, Kunst- und Ästhetikgeschichte, Epistemologie, Religion, Sprache, Mediengeschichte, KI-Forschung, Politik, Pädagogik, Ethik, Transformationsdesign.
b) Die „Familiengeschichte Philosophie und Mathematik“, also der Formzusammenhang zwischen diesen Feldern und ihren historischen Phänomenen, wird durchgehend explizit im Buch behandelt, nicht erst am Schluss. Dies erstens, weil die Koevolution und der Formzusammenhang dieser Bereiche ein zentrales Thema des Buches ist und darum ein struktureller Träger des Argumentationsaufbaus ist, zweitens weil auch Bammé in seinem Werk auf diesen wesentlichen Zusammenhang rekurriert und darin die Pionierleistung vorlegt, auf der das Buch aufbaut. Kapitel, in denen die Verschränkung von Mathematik, Philosophie, Weltverhältnis und Kognitionsstruktur explizit untersucht bzw. aufgezeigt wird, sind: Kap. 5.2.4, 5.2.5, 5.3.2, 5.3.3, 7.2.2, 7.3.1, 7.3.2, 8.4.1.c, 8.4.3.d, 8.5.1.c, 8.5.2.a-c, 8.5.3.a, 8.5.3.g. Darüber hinaus wird durchgehend auf die detaillierte Rekonstruktion der Mathematikgeschichte nach dem Kapazitätenmodell verwiesen, die im Anhang 4 stattfindet.


5. „Durchgehend schwierig ist der normativ, referenziell und regulativ unterbestimmte Term ‚Zivilisation‘. [….] Eine durchformulierte Position zu Zivilisation findet sich als Kapitel leider nicht.“
(Faßler 2020b, S. 582)

Ergänzung
Die ethisch-normative Problematik um den mittlerweile zum Reizwort (oder wie man heutzutage auch sagt „Triggerwort“) gewordenen Term „Zivilisation“ ist mir selbstverständlich bekannt. Darum ist dieser Problemkomplex an vielen Stellen des Buches thematisiert worden.
Abgesehen davon jedoch kommt der Ausdruck „Zivilisation“ alleinstehend in Generative Realitäten I überhaupt nicht vor – eben schon gar nicht im emphatischen oder ideologischen Sinne. Es gibt die „Technologische Zivilisation“ (im Anschluss an Bammé, geschrieben mit großem T), womit eine spezifische Geschichtsphase gemeint ist [a], und es gibt den fachtechnischen Begriff der „zivilisatorischen Kapazitäten“ [b], der ein Theoriebegriff ist und keinerlei Wertung enthält (um genauer zu sein: alle Kulturen sind Ausdruck zivilisatorischer Kapazitäten, ihre Werte und Normen, ihre Disparatheiten und Ähnlichkeiten erklären sich aufgrund dessen, dass sie je unterschiedliche „zivilisatorische Performanzen“, also kulturelle Praxen aktivieren und reproduzieren).
Darüber hinaus enthält das Buch zahlreiche Auseinandersetzungen mit der ethisch-normativen Problematik von „Zivilisations“-Begriffen in der Theorie- und Geistesgeschichte [c].
a) Kapitel, in denen erläutert wird, was unter „Technologische Zivilisation“ zu verstehen ist, sind Kap. 1, 7.4, 8.6, 9.5.
b) Kapitel, in denen das Konzept der „zivilisatorischen Kapazitäten“ eingeführt und ausgebaut wird, sind Kap. 5, 8.1, 8.2.
c) Kapitel, in denen explizit und implizit der „klassische“ euro- bzw. ethnozentrische normative Begriff von Zivilisation bzw. der Problemkomplex „Zivilisation vs. wilder Urzustand“, „Zivilisation vs. Barbaren“, auch „Zivilisation vs. Kultur“ behandelt wird, der noch bis ins mittlere 20. Jahrhundert spannungsreich wirkte, sind Kap. 2, darin besonders 2.1, 2.2, 2.6, 6.2, darüber hinaus 7.6, 8.1, 8.2.


Die Rezension enthält noch eine Reihe weiterer problematischer Wiedergaben der Inhalte.
So scheint mir, dass Herr Faßler etwa den Begriff der „zivilisatorischen Kapazität“ oder den theorietechnischen Begriff der „globalen Ordnung“ (nach Heiner Mühlmann; vgl. Löffler 2019, Kap. 2.4.1, 5.2) mit dem sachdimensionalen oder alltagssprachlichen Gebrauch von „Zivilisation“ (wie etwa in „globale Zivilisation“ im Sinne von medial/ökonomisch/technisch gebundene Weltgesellschaft) vermischt (vgl. Faßler 2020b, S. 582).
An einer Stelle moniert Herr Faßler, dass die Lösung für eine Verbindung von kollektiver Intentionalität, Reziprozität, Ontogenese und Phylogenese nicht gegeben sei und verweist dann auf eine „Zwischenlösung“, die in der „aktuellen Debatte um die ‚communal-intelligence’“ liegen könnte (Faßler 2020b, S. 582). Tatsächlich wurde dieses Problem in der Studie nicht nur explizit behandelt, sondern die darin explizit vollzogene Verbindung von Sozialität und Kognitionsstruktur bildet die konzeptuelle Schlüsselstelle des ganzen Werkes, ohne die alle weiteren Ausführungen nicht verstanden werden können. Es handelt sich um die ab der „ideellen kulturellen Kapazität“ mit dem Beginn der Zivilisationsgeschichte vor 40.000 Jahren einsetzende „kollektiv distribuierte Mustererkennung“, welche die Grundlage der Zivilisationsgeschichte und des zivilisationsgeschichtlichen Kumulationsprozesses schlechthin ist (explizit in Löffler 2019, Kap. 5.2 und 5.3, speziell 5.3.3). Des Weiteren beruht hierauf auch der konzeptuelle Kernbefund der Studie, das „weltgenetische Rekursionsgesetz“ (Löffler 2019, Kap. 5.3.5).
Dass diese Schlüsselkonzepte übersehen worden sind, könnte darauf hindeuten, dass das Buch stellenweise vielleicht doch etwas zu „ungeduldig“ gelesen wurde mit der Folge, dass nicht alle Kernaussagen und Befunde des Buches in Gänze erfasst worden sind. Diese Probleme, die schon in die freie Interpretation hineinreichen, lassen sich jedoch nur durch Kenntnis der besagten Stellen im Buch sinnvoll auflösen. Mit diesem Verweis möchte ich diese knappe Replik auf Herrn Faßlers Rezension beenden und überlasse weitere Klärungen der offenen Diskussion, die dieser Kommentar, so die Hoffnung, vielleicht auch anzuregen vermag.


Literatur

Bammé, Arno. Homo occidentalis. Von der Anschauung zur Bemächtigung der Welt. Zäsuren abendländischer Epistemologie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2011.

Faßler, Manfred. Cyber-Moderne. Medienevolution, globale Netzwerke und die Künste, zu kommunizieren, Wien/New York: Springer 1999.

Faßler, Manfred. Erdachte Welten. Die mediale Evolution globaler Kulturen. Wien/New York: Springer 2005.

Faßler, Manfred. Nach der Gesellschaft. Infogene Zukünfte – Anthropologische Ausblicke. Paderborn: Wilhelm Fink 2009.

Faßler, Manfred. Partizipation ohne Demokratie. Über die Folgen der Netz-und Geopolitik von Facebook, Google, Amazon Co. München: Wilhelm Fink 2020a.

Faßler, Manfred. „Einzelbesprechung: Davor Löffler, Generative Realitäten I. Die Technologische Zivilisation als neue Achsenzeit und Zivilisationsstufe. Eine Anthropologie des 21. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück 2019, 788 S., kt., 79,90 €.“ Soziologische Revue, 43(4): 574-583. doi: https://doi.org/10.1515/srsr-2020-0072, 2020b.

Haidle, Miriam N., Michael Bolus, Mark Collard, Nicholas J. Conard, Duilio Garofoli, Marlize Lombard, April Nowell, Claudio Tennie und Andrew Whiten. „The nature of culture: an eight-grade model for the evolution and expansion of cultural capacities in hominins and other animals.“ Journal of Anthropological Sciences 93: 43-70, 2015. https://doi.org/10.4436/JASS.93011.

Henrich, Joseph. The Secret of Our Success: How Culture Is Driving Human Evolution, Domesticating Our Species, and Making Us Smarter. Princeton University Press: Princeton 2016.

Löffler, Davor. Generative Realitäten I: Die Technologische Zivilisation als neue Achsenzeit und Zivilisationsstufe. Eine Anthropologie des 21. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2019.

Mueller, Ullrich. Die Entwicklung des Denkens. Entwicklungslogische Modelle in Psychologie und Soziologie, Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1982.

Tennie, Claudio, Josep Call und Michael Tomasello. „Ratcheting up the ratchet: on the evolution of cumulative culture.“ Philosophical Transactions of the Royal Society B 364: 2405-2415, 2009.

Thrift, Nigel. „Remembering the Technological Unconsciousness by Foregrounding Knowledges of Position.“ in: Nigel Thrift, Knowing Capitalism, London: Sage 2005, S. 212–226,

Tomasello, Michael. „Cultural Transmission in the Tool Use and Communicatory Signaling of Chimpanzees?“ In: Sue T. Parker, Kathleen R. Gibson (Hg.), „Language“ and Intelligence in Monkeys and Apes: Comparative Developmental Perspectives, New York, NY: Cambridge University Press, S. 274–311, 1990.